Inschriftenkatalog: Stadt Bonn

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 50: Bonn (2000)

Nr. 23† Münster 12. Jh.?

Beschreibung

Grabstein oder Grabplatte für einen Goldschmied Heinrich. Nach einer Quelle des 18. Jh. in Zweitverwendung in der Kapelle Beatae Mariae Virginis in pasculo (am westlichen Flügel des Kreuzgangs) in die oberste Altarstufe eingelassen.1) Rötlicher Stein, vermutlich Rotsandstein,2) an der rechten Schmalseite mit Schriftverlust abgebrochen.3) Im Mittelfeld ein großflächig eingraviertes Kreuz. Inschrift der Langseite der Platte folgend zeilenweise angeordnet. Nach einer Zeichnung Laporteries sparte die Inschrift nur den Längsbalken, nicht den Querbalken des Kreuzes aus. Zwischen 1788 (Laporterie) und 1868 (aus’m Weerth) verlorengegangen, wahrscheinlich in der Zeit der französischen Besatzung. Maße unbekannt.

Text nach der heute verlorenen Zeichnung von Laporterie,4) demnach romanische Majuskel.

  1. HIC · QVI · DEFVNCT(VS) · IACET · AVRIFICIS · VICE [F...]a) /HENRIC(VS) · DICT(VS) · MANVV(M) · FVIT · ARTE · PERI·T[VS]5) /QVA · SVNT · QVE·SITE · RES · ET · STIPE(N)D[...]b) /VIVERE · QVANDO · FVIT · SEDI·ORc) · NATVRA · DE[...]d) /QVI · LEGIS · HOC · S(ANC)TEe) · PETITVR · MOT(VS)f) P[...]g) /EIVS · DELICTI · MACVLAS DE·POSCE·RE[...]h)

Übersetzung:

Der hier als Verstorbener liegt, nachdem er den Beruf eines Goldschmieds ausgeübt hatte,

Heinrich genannt, war in der Handwerkskunst erfahren,

durch welche seine Besitztümer und [...] außerordentlich sind,

solange er lebte, [...]

der du dies liest [...]

bitte dringend, die Flecken seiner Sünde [...]6)

Versmaß: Hexameter.

Kommentar

Laporteries Zeichnung zeigt eine ornamentale Majuskel, die neben den kapitalen Grundformen das unziale A, E, H, M (links geschlossen) und T sowie das eingerollte G verwendet. Die Bogenenden des G und des T sind stark eingerollt, die Bögen von D, O, P und Q spitzoval wiedergegeben.

Eine sichere Rekonstruktion und Übersetzung des bei Laporterie überlieferten Textes ist nicht möglich. Einen Anhaltspunkt gibt die metrische Struktur, wohingegen eine möglicherweise vorhandene Reimstruktur wegen des Textverlustes am rechten Rand nicht erkennbar ist. Lediglich im zweiten Vers läßt sich mit einiger Sicherheit von einem zweisilbigen leoninischen Reim ausgehen. Arens hat sich um eine sinnvolle Ergänzung des Textes bemüht, setzt dabei aber einen durchgehenden, teils ein-, teils zweisilbigen leoninischen Reim voraus und greift z. T. stark in die überlieferte Fassung ein, so daß er mehrfach der Gefahr der Spekulation erliegt:

Hic qui defunctus iacet aurificis vice (functus),Henricus dictus manuum fuit arte peritus,Qua sunt quesite res et stipe(ndia vite),Vivere quando fuit. Sequior natura re(cessit).Qui legis hoc: iste petitur; motus p(rece siste):Eius delicti maculas deposce re(stingui).

Arens übersetzt den rekonstruierten Text: „Der hier begraben liegt, nachdem er eines Goldschmiedes Amt erfüllt hat, Heinrich mit Namen, das war ein Mann, in seinem Handwerk wohl erfahren, wodurch er sich Habe und Lohn des Lebens erworben, solang‘ er am Leben war. (Jetzt) ist sein schlechterer Teil heimgekehrt. Der du dies liesest, (wisse): er ist in Not; laß seine Bitte dich bewegen, verweile: Flehe dringend, daß seiner Sünde Flecken (ihm) ausgetilgt werden.“

Mehrfach wurde vermutet, daß sich hinter dem AVRIFEX HENRICVS der Goldschmied verbirgt, der die Reliquienschreine für die Gebeine der Patrone des Cassiusstiftes anfertigte. Tatsächlich lassen seine offensichtlich ehrenvolle Bestattung in der Kirche und das im Text zum Ausdruck gebrachte Künstlerlob dies möglich erscheinen, wenn man auch in dieser Frage kaum zu einer gesicherten Aussage gelangen wird. Jedenfalls kann die erst 1281 gestiftete Marienkapelle nicht die (ursprüngliche) Grabstätte des AVRIFEX gewesen sein.7)

Die Inschrift weist eine Reihe von Parallelen zu der Gedenkinschrift für eine Gerlint auf (vgl. Nr. 14). Beide Inschriften sind zeilenweise auf einem querrechteckigen Stein angeordnet und metrisch gefaßt, beide beinhalten direkte Anreden an den Leser. In beiden Fällen werden die Verdienste des Verstorbenen während seines irdischen Lebens hervorgehoben. Ob diesen – wie bei der Gerlint-Inschrift – auch in der Inschrift für Heinrich im Sinne eines Memento mori das Schicksal der sterblichen Hülle gegenübergestellt wird, läßt sich aufgrund der Überlieferungssituation nicht mit Sicherheit klären.

Textkritischer Apparat

  1. Ergänzung nach A. 16. VICE [FVNCTVS] Arens. Die Junktur „fungi vice“ ist bei Cicero und Plinius überliefert (Georges II, ‚vicis‘, Sp. 3472). Auf die Wiedergabe der von Arens hinreichend widerlegten Ergänzungsvorschläge aus’m Weerths wird hier verzichtet.
  2. STIPE[NDIA VITE] Arens.
  3. SEQVIOR Arens. Die bei Laporterie überlieferte Variante SEDIOR ist unverständlich, eine Verlesung der Stelle durch Laporterie ist ebenso denkbar wie ein Steinmetzfehler.
  4. RE[CESSIT] Arens. A. 16 überliefert nur die ersten beiden Wörter des Verses.
  5. ISTE Arens.
  6. Kürzung durch waagerecht nach links auslaufenden us-Haken. Anfangsbuchstabe bei Kraus als vorne geschlossenes unziales M mit Fragezeichen wiedergegeben. PETITVR MOT(VS)] PETITVRVS OTIA aus’m Weerth.
  7. P[RECE SISTE] Arens.
  8. DEPOSVRE A. 16; RE[STINGVI] Arens.

Anmerkungen

  1. A. 16: „In ambitu, in Sacello B. M. V. ante aram in suppedaneo“.
  2. „Lapis rubeus“ (A. 16). Aus dem 10. bis 12. Jh. sind in Bonn mehrere Gedenksteine aus Rotsandstein erhalten, während diese Gesteinsart für die späteren Bonner Inschriftendenkmäler (soweit überliefert) nur selten Verwendung fand.
  3. A. 16: „Quia ab hoc lapide inferior pars abscissa est, deficiunt ultima verba...“.
  4. Bei Clemen, KDM, Fig. 42. Siehe dazu die Einleitung, S. XX.
  5. Die Junktur „arte peritus“ ist in der mittellateinischen Dichtung mehrfach als Hexameterschluß belegt (vgl. Hex.-Lex. 1, S. 136f.).
  6. Zu einer Übersetzung des weiteren Textes siehe den Kommentar.
  7. Höroldt, St. Cassius, S. 306.

Nachweise

  1. HStAD, Cassiusstift, A. 16.
  2. aus’m Weerth, Münsterkirche, S. 16, Anm. 41 (nach Laporterie).
  3. Kraus II, Nr. 510 (nach Laporterie).
  4. Clemen, KDM, S. 91 und Fig. 42 (nach Laporterie).
  5. E. Arens, Philologische Studien zu rheinischen Inschriften des Mittelalters, AHVN 118, 1931, S. 32–45 (32–36) (nach Laporterie).

Zitierhinweis:
DI 50, Bonn, Nr. 23† (Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di050d004k0002306.