Inschriftenkatalog: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 78: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt (2009)

Nr. 208 Baden-Baden-Lichtental, Kloster Lichtenthal, Museum 1520?

Beschreibung

Korporalienkästchen. Leinengrund mit Seiden- und Leinenstickerei in Rot und Blau; Kreuz- und Holbeinstich.1 Flaches Kästchen auf nahezu quadratischem Grundriß, außen mit Samt bezogen, innen mit Leinen ausgelegt. Außenseiten und Deckel 1942 erneuert.2 Im Zentrum des Bodens über angedeuteten Blumen das nimbierte Lamm Gottes mit Kelch und Siegesfahne, in der die Namensinitiale (A) erscheint. Den Rahmen bildet ein oktogonales Schriftband mit dem Bibelzitat (B). In den äußeren vier Ecken die symbolischen Wesen der Evangelisten, versehen mit den entsprechenden Namensinitialen: links oben (C), rechts oben (D), links unten (E) und rechts unten (F). Auf der hinteren Innenseitenfläche des Kästchens die datierte Stifterinschrift (G). Auf den übrigen drei Seitenflächen ist im Uhrzeigersinn das Bibelzitat (H) eingestickt.

Maße: H. 5,5, B. 21, T. 19,5, Bu. 0,7 (A–F), 2,0 cm (G, H).

Schriftart(en): Gotische Majuskel (A–F), Gotische Minuskel mit Versal (G), Gotische Minuskel (H).

Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Zisterzienserinnenabtei Lichtenthal, Baden-Baden [1/9]

  1. A

    M

  2. B

    · EC/CE · / AGNUS / · · DE/I3) · EC/CE · / AGNC/Sa) · D/EI3)

  3. C

    M(ARCUS)

  4. D

    I(OHANNES)

  5. E

    L(UCAS)

  6. F

    M(ATTHAEUS)

  7. G

    abb(atissa)b) · Mc) · an(n)od) ·e) 1520f)

  8. H

    panem ·e) ange/lorum ·e) mandu/cauit ·e) homo ·e)4)

Übersetzung:

Siehe, das Lamm Gottes (B). – Äbtissin M(…) im Jahre 1520 (G). – Das Brot der Engel aß der Mensch (H).

Kommentar

Sämtliche Buchstaben der Gotischen Majuskel in den Inschriften (A) bis (F) besitzen spitz ausgezogene Bogenschwellungen und schräg anliegende Sporen. Das A ist pseudounzial ausgeführt. Das C, das unziale E und das unziale M sind vollständig geschlossen. Den Balken des L ersetzt ein Balkensporn. Als Worttrenner dienen kleine griechische Kreuze auf halber Zeilenhöhe, deren Balkenenden dreieckige Sporen tragen. Innerhalb der Gotischen Minuskel (G, H) sind die oberen Schaftenden von b, h, l, t sowie das untere Schaftende des p gespalten und beiderseits nach außen umgebogen. Der Schaft des d ist etwa in der Mitte im 45°-Winkel nach links abgeknickt und der Bogen des h unter der Grundlinie nach links umgebogen.

Das Kästchen stellt nach Inschrift (G) die früheste datierte Kreuzstichstickerei dar, die sich am Oberrhein erhalten hat.5 Während die Verwendung der Gotischen Minuskel mit der Jahresangabe auf den ersten Blick gut vereinbar scheint, verweist indessen die Gotische Majuskel mit den spitz ausgezogenen Bogenschwellungen nach epigraphischen Gesichtspunkten in die Mitte des 14. Jahrhunderts.6 Da sich jedoch die Verwendung des Kreuzstiches zu dieser Zeit anderweitig nicht belegen läßt und die Arbeit außerdem merkwürdig perfekt erhalten ist, muß wohl mit einer späteren, historisierenden Anfertigung gerechnet werden. Aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben sich einige Stickmustertücher mit sehr ähnlichen Buchstaben- und Sporenformen erhalten, so daß die Gestaltung des Kästchenbodens auch aus dieser Zeit stammen könnte.7

Die Jahresangabe in Inschrift (G) löst daneben durch die Namensinitiale M Irritationen aus. Denn im Jahre 1520 versah Rosula Röder das Amt der Äbtissin, nachdem ihre Vorgängerin, Maria von Baden, bereits am 8. Januar 1519 verstorben war.8 Nun ist zwar eine erst postum eingelöste Stiftung durchaus denkbar, jedoch hätte man die Inschrift dann sicher anders formuliert. So ist wohl davon auszugehen, daß der ursprüngliche Buchstaben- bzw. Ziffernbestand im Zuge nachträglicher Restaurierungen verfälscht wurde.9

Textkritischer Apparat

  1. So statt AGNU/S.
  2. Die Oberlängen der beiden b durchschneidet ein rechtsschräger Kürzungsstrich.
  3. Symmetrisches unziales, offenes M, von einer Krone überhöht. Der Mittelschaft mit einem kurzen waagerechten Zierbalken versehen, die Bogenenden nach außen eingerollt. Ohne Kürzungszeichen.
  4. Ohne Kürzungszeichen, das o hochgestellt.
  5. In vier gleiche Felder unterteilte Raute.
  6. Die 5 eckig in S-Form; die 2 spitz.

Anmerkungen

  1. Angaben zu Material und Technik nach 750 Jahre Lichtenthal 252 nr. 83.
  2. Vgl. KA Lichtenthal o. Sig., Bauer (wie unten); 750 Jahre Lichtenthal 252 nr. 83.
  3. Io 1,36.
  4. PsG 77,25.
  5. Vgl. Renaissance (wie unten). Ein sehr ähnliches Korporalienkästchen (15. Jh.?) mit Inschriften in Kreuz- und Hexenstichstickerei befindet sich im Weserrenaissance-Museum Schloß Brake in Lemgo (Lkr. Lippe), vgl. DI 59 (Lemgo) nr. 25.
  6. Vgl. die ähnlichen Buchstabenformen in nrr. 16, 30, 35.
  7. Vgl. Stickmustertücher, bearb. v. Nina Gockerell (Kataloge des Bayerischen Nationalmuseums München 16), München 1980, 58–61 nrr. 18–22 (Abb. 63–68); Ruth Grönwoldt, Stickereien von der Vorzeit bis zur Gegenwart aus dem Besitz des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart und der Schlösser Ludwigsburg, Solitude und Monrepos, München 1993, 135 nr. 161; 136 nr. 163.
  8. Vgl. Schindele, Abtei Lichtenthal (1985) 71 und nr. 201.
  9. Vielleicht ist die zweite Ziffer der Jahreszahl 1520 in Inschrift (G) irrtümlich statt einer 6 eingefügt worden; dann könnte es sich um die Äbtissin Margareta Stülzer (1597–1625) handeln, vgl. zu ihr nr. 491.

Nachweise

  1. KA Lichtenthal o. Sig., Bauer, Inventar, Bd. 10: Handarbeit, Stickereien, Reliquien, Kleinkunst, fol. 1r (nur H; Abb.).
  2. Renaissance, Bd. 2, 824 nr. Q 25 (Abb. Q 25).
  3. 750 Jahre Lichtenthal 252 nr. 83 (nur A, B, G, H; Abb.).
  4. KA Lichtenthal o. Sig., Krupp, Inventar, Bd.: Museum, Fürstenzimmer 7, Eckvitrine mit Janus-Uhr, oben, o. S. (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 78, Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt, Nr. 208 (Ilas Bartusch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di078h017k0020808.