Inschriftenkatalog: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 78: Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt (2009)

Nr. 114 Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle 1489

Beschreibung

Zwei Flügel vom ehemaligen Hochaltar der Lichtenthaler Klosterkirche. Der alte Schrein bereits im Jahre 1725 erneuert und 1757 wegen weitgehender Beschädigungen an den zentralen Bildwerken vollständig demontiert.1 Die Figurengruppe der Hl. Drei Könige und der thronenden Muttergottes mit dem Jesuskind danach im Kloster aufbewahrt, die übrigen Ausstattungsstücke verloren.2 Während sich die Marienfigur noch heute in Lichtenthal befindet und im nördlichen Bereich der Chorstufen in der Klosterkirche aufgestellt ist, wurden die Schnitzfiguren der Hl. Drei Könige im Jahre 1939 bei Sotheby’s nach Irland versteigert.3 1952 gelangten sie an das Metropolitan Museum of Art in New York.4 Die Schreinflügel wurden 1803 in die Galerie des Mannheimer Schlosses überführt und sind seit 1890 im Besitz der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe.5 Mischtechnik auf Tannenholz.6 Auf der ehemaligen Innenseite des linken Flügels die Geburt Mariens: Die hl. Anna liegt in einem hohen, grün bezogenen Baldachinbett und hat die Hände zum Gebet aneinandergelegt. Zu ihrer Rechten reicht eine Magd eine Schale mit Brei, zur Linken zeigt die Hebamme das neugeborene Kind dem Vater Joachim, der es am Fußende kniend anbetet. Rechts neben dem Bett ein Nachttischchen, auf dem ein Bild mit der Darstellung Moses’ vor dem brennenden Dornbusch steht.7 Darüber in der oberen Ecke der Tafel ein rundes Fenster mit schräggerauteter Bleiverglasung. In dessen Mitte ein von einem Krummstab hinterlegter und von Blattwerk umgebener Wappenschild. Dieser wird von einem Ring umschlossen, in dem die umlaufende Stifterinschrift schwarz aufgemalt ist, die sich in einem zweiten Ring am Fensterrand fortsetzt (A). Auf der Vorderseite des Flügels nach dem Vorbild eines Täfelchens aus der Schule Rogiers van der Weyden die Verkündigung an Maria.8 Vor dem Mund des Erzengels, der in einem Schlafgemach auf die rechts am Fenster lesende Jungfrau zutritt, das in Gold aufgemalte Bibelzitat (B). Marias aufgeschlagenes Buch läßt drei dicht beschriebene Seiten erkennen. Während auf der linken nach einer roten Initiale nur wenige Wörter (C) lesbar sind und das dritte, halb verdeckte Blatt gänzlich mit Pseudoschrift gefüllt zu sein scheint, steht auf der mittleren Seite das Psalmzitat (D). Im Bildvordergrund eine Vase mit Lilien.

Auf der Außenseite des rechten Flügels die Heimsuchung, auf der Innenseite der Tod Mariens. Sie ruht in einem rot bezogenen Baldachinbett, um das die Zwölf Apostel gruppiert sind. Am Fußende des Bettes sitzen zwei lesende Jünger. Auf den sichtbaren Seiten ihrer aufgeschlagenen Bücher ist die Schrift in Bastarda-Formen imitiert, die mit roten, stark vergrößerten Initialen beginnt (links E, rechts F).

Maße: H. 248, B. 163, Bu. 0,5–1,0 (A), 2 (B), 0,2 (C, D), 1 (E), 2,5 cm (F).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, B), Gotische Buchschrift (C, D), Gotische Majuskel (E, F).

Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Staatliche Kunsthalle Karlsruhe [1/13]

  1. A

    DIS · FENISTER HAT · GEMACHT · FRAV MARGRET · //a) EIN · MARCGREVNb) · GEBORN · VND · EIN · APPATISSIN · ZVOc) · LIECHTENDLb) · IN · DEM · IAR DO · MAN · ZALT · 1489 IAR ·

  2. B

    AVEd) · GRACIA //e) · PLENA · D(OMI)N(V)Sf) · TECVM ·g)9)

  3. C

    P[. . .]h) Dom[– – –]/gnoui [– – –] / quis in d[– – –] / his [– – –] / octo in mig[– – – / – – – / . . .]i) Quisk) [. . . . . . / . . . . . . .] d[. . . . . . . . .] / Dr[. . . .] Inventu[. . . . . / – – –]

  4. D

    Benedixistil) domine / terram tua(m) auu(er)/tistib) captiuitatem / Iacob Remisisstib) in/iquitates blebisb) tue / Op(er)uisti o(mn)ia p(e)cc(a)ta / eor(um) Mittigastib) o(m)n(e)m / ira(m) tuam auertisti / ab ira ịṇḍịg̣(ṇ)ạṭịọṇịṣ / tue Conuertem) nos ḍẹụṣ10)

  5. E

    Qn)

  6. F

    Po)

Übersetzung:

Gegrüßt seiest du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. (B) – Herr, du hast dein Land gesegnet, du hast die Gefangenschaft Jakobs gewendet, du hast die Ungerechtigkeiten deines Volkes getilgt, du hast all deren Sünden überdeckt, du hast all deinen Zorn bezähmt, hast dich abgewandt vom Zorn deiner Empörung, richte uns (wieder) auf, Gott (…). (D)

Wappen:
Baden.

Kommentar

Die Buchstaben in den Inschriften (A) und (B) sind durch Bogen-, teilweise auch durch aufgesetzte Tropfenschwellungen sowie deutliche, meist rechtwinklig angesetzte Sporen gekennzeichnet. An unzialen bzw. runden Buchstaben erscheinen das D, das E, das F, das H und das links geschlossene M. Letzteres tritt außerdem in kapitaler und byzantinischer Form, das D überdies als Kapitalisbuchstabe ohne Schaft auf. Das N ist mitunter retrograd wiedergegeben; sein Schrägbalken wurde stets nur als Haarlinie ausgeführt. Das A hat einen beiderseits überstehenden Deckbalken; der Mittelbalken fehlt überwiegend. In MARGRET und AVE wurde ein epsilonförmiges E verwendet. Den Balken des L ersetzt häufig ein Balkensporn. Die Cauda des R ist in der Regel geschwungen, die des G bisweilen rechtwinklig nach innen umgebrochen. Als Worttrenner dienen Punkte, Quadrangel oder kleine Kreuze auf halber Zeilenhöhe. Die farbigen Initialen der Inschriften (C–F) wurden teilweise als Fleuronnés ausgeführt.

Die Gemälde der Altarflügel stammen von einem unbekannten Meister, der offensichtlich Einflüsse der schwäbischen, oberrheinischen wie auch niederländischen Malerei verarbeitete und reflektierte.11 Sein Bestreben, durch einige Bilddetails – wie z. B. den scheinbar aus dem Bild ragenden Wäschebottich innerhalb der Szene zur Geburt Mariens – die Illusion von Wirklichkeit zu verstärken, läßt sich auch an den Inschriften erkennen. So legte der Maler besonderen Wert auf die täuschend echte Imitation des Schriftbildes auf den einsehbaren Seiten aufgeschlagener Bücher. Neben den formalen Aspekten trug auch der Inhalt der Stiftungsinschrift (A) dazu bei, die Szenerie des Bildes so naturalistisch wie möglich nachzuahmen. Denn vordergründig stellt der Text ja lediglich einen Bezug zum abgebildeten Fenster her.12 Daß damit indirekt auf die Auftraggeberin des Altars verwiesen wird, steht freilich außer Zweifel.13 Äbtissin Margareta von Baden hatte ihr Amt um das Jahr 1476 angetreten und damit nicht zuletzt die Verantwortung über die Ausstattung der um 1470 umgebauten und geweihten Klosterkirche übernommen.14 Auf ihre Veranlassung erhielt auch der Nonnenchor 1496 einen neuen Altar.15

Textkritischer Apparat

  1. Danach Fortsetzung der Inschrift auf dem äußeren Scheibenring.
  2. Sic!
  3. Das O klein über das V gemalt.
  4. Das A etwa doppelt so groß wie die übrigen Buchstaben. Der leicht eingebogenen linke Schrägschaft weit ausgezogen und mit einer aufgesetzten Tropfenschwellung versehen. Der gekrümmte linksschräge Balken ist nur mit dem rechten Schrägschaft verbunden.
  5. GRACIA //] Der letzte Buchstabe durch das die Inschrift unterbrechende Lilienzepter zur Hälfte verdeckt.
  6. Der Kürzungsbalken über dem N mit Ausbuchtung nach oben.
  7. Aus dem Worttrenner entspringt eine Fadenranke.
  8. Als Fleuronné gestaltet.
  9. Der Anfang der beiden letzten Zeilen wird jeweils vom Zeigefinger der Jungfrau verdeckt.
  10. Die Cauda des Q ragt nach links unter die Grundlinie.
  11. Das B blau ausgezeichnet.
  12. Das C rot ausgezeichnet.
  13. Die Cauda ist nach links unter die Zeile gezogen und wird von einem Perlsporn begrenzt, aus dem wiederum eine dünne Zierlinie entspringt. An den seitlichen Bogenabschnitten liegen konturierte Halbnodi an. Vielleicht handelt es sich auch um ein symmetrisches unziales, nahezu kreisrundes M ohne erkennbaren Mittelschaft.
  14. Der Bogen mit starker Schwellung; der Schaft unten gespalten, wobei der rechte Teil verlängert ist und sich nochmals in eine Haarlinie und einen mit Perlsporn versehenen Abschnitt verzweigt. Das obere Schaftende ist ebenfalls mit mehreren Perlsporen verziert.

Anmerkungen

  1. Vgl. SpGORh 156; Lauts, Schwäbischer Meister (wie unten). Zu den späteren Veränderungen am Altar vgl. KA Lichtenthal o. Sig., Bauer, Baugeschichte Klosterkirche, fol. 28r.
  2. Vgl. zur Aufbewahrung Rorimer (wie unten) 81–83, zu den übrigen abhanden gekommenen Figuren siehe Lauts, Schwäbischer Meister (wie unten) und SpGORh Nachträge 133f. (vermutlich nur die Figur des hl. Josef verloren). Zu den Figuren der thronenden Muttergottes und der Hl. Drei Könige vgl. SpGORh, o. S. (Abb. 99–101).
  3. Zur gegenwärtigen Aufstellung der Muttergottes vgl. Cistercienserinnen-Abtei Lichtenthal 5 (Abb.), 8 (Abb.); Abtei Lichtenthal 7 (Abb.); zur Versteigerung vgl. Rorimer (wie unten) 81.
  4. Vgl. Notes, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin 12 (1952/ersch. 1953) nr. 4, 80.
  5. Vgl. SpGORh 156; Staatl. Kunsthalle Karlsruhe Inv.-nr. 806 a/b.
  6. Vgl. SpMAORh, T. 1, 255 nr. 143.
  7. Zur Ikonographie dieses Motivs in Bezug auf Maria vgl. ebd. 157f. nr. 108.
  8. Vgl. Lauts, Schwäbischer Meister (wie unten).
  9. Lc 1,28.
  10. PsG 84,2–5. In der Liturgie vielfach verwendet, so z. B. im Commune festorum Beatae Mariae Virginis, vgl. Breviarium monasticum. Pauli V jussu editum, Urbani VIII et Leonis XIII cura recognitum, Pii X et Benedicti XV auctoritate reformatum, pro omnibus sub Regula S. Patris Benedicti militantibus, Bd. 2: Pars verna, Mecheln 1953, (287). Für die Entzifferung des Textes danke ich meinem Kollegen Dr. Harald Drös, Heidelberg.
  11. Vgl. die kunsthistorische Analyse und Einordnung der Tafeln in SpMAORh (wie unten); Krimm, Markgrafen 74–76; SpGORh (wie unten); Lüdke (wie unten); Lauts, Schwäbischer Meister (wie unten).
  12. Vgl. Krimm, Markgrafen 75.
  13. Der Gedanke, die Inschrift bezeuge das aktive Mitwirken der Äbtissin an der Erstellung der Bilder, erscheint mithin abwegig; vgl. dazu Bernhard von Baden 65; KA Lichtenthal o. Sig., Bauer, Baugeschichte, fol. 28r.
  14. Vgl. zu den Umbaumaßnahmen Coester, Klosterkirche 94; KA Lichtenthal o. Sig., Bauer, Baugeschichte, fol. 29r.
  15. Vgl. nr. 127.

Nachweise

  1. Kdm. Baden-Baden 496 (nur A).
  2. Malerei und Plastik des Mittelalters aus Südwestdeutschland. Kurhaus Baden-Baden Juni-Juli 1947, hg. v. Direction de l’Education Publique, Sous-Direction des Beaux-Arts u. d. Landesamt für Museen, Sammlungen und Ausstellungen, Freiburg (Breisgau), Baden-Baden 1947, nr. 11 (Abb.; nur E, F).
  3. Bernhard von Baden 64f. (nur A).
  4. James J. Rorimer, Three Kings from Lichtenthal, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin 12 (1952/ersch. 1953) nr. 4, 81–91, hier 88 (Abb., nur A).
  5. Jan Lauts, Schwäbischer Meister 1489. Geburt und Tod Mariä. Zwei Altarflügel aus Kloster Lichtenthal (Bildhefte der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe 1), Karlsruhe 1966, o. S. (nur A; Abb. 1–4).
  6. Jan Lauts, Meisterwerke der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Karlsruhe 1957, 43 nr. 18 (nur A; Abb. 20f.).
  7. Lauts, Altdeutsche Meister nr. 19 (nur A).
  8. Katalog Alte Meister, T. 1, 276 nr. 806a (nur A), 277 nr. 806b (Lit.).
  9. KA Lichtenthal o. Sig, Bauer, Inventar, Bd. 7: Gemälde, fol. 37r (Abb.).
  10. SpGORh 158 nr. 108 (nur A), 159 (Lit.).
  11. Stange, Dt. Malerei, Bd. 7, 28 nr. 54f. (erw.).
  12. Stange, Tafelbilder, Bd. 2, 45 nr. 135 (nur A).
  13. SpGORh Nachträge 133f. (erw.).
  14. Schindele, Abtei Lichtenthal (1984) 154 Anm. 815 (nur A).
  15. Dietmar Lüdke, Schwäbischer Meister, in: Ausgewählte Werke der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. 150 Gemälde vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. d. Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Stuttgart 1988, 28f. (Abb., nur A).
  16. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, bearb. v. Siegmar Holsten (Museum), Braunschweig 1989, 16 (erw.), 17 (Abb.; nur E, F).
  17. Krimm, Markgrafen 75 (nur A), 76 (Abb. 4, nur A).
  18. 750 Jahre Lichtenthal 240 nr. 71 (Lit.), 241–243 (Abb. 71a–d).
  19. SpMAORh, T. 1, 255–257 nr. 143 (nur A; Lit.; Abb. 143/1, 143a–d).

Zitierhinweis:
DI 78, Stadt Baden-Baden und Landkreis Rastatt, Nr. 114 (Ilas Bartusch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di078h017k0011401.