Inschriftenkatalog: Aachen (Dom)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 31: Aachen (Dom) (1992)

Nr. 16 Dom, Michaelskapelle Anf. 11. Jh.

Beschreibung

Reliquiensärge der Hl. Corona und des Hl. Leopardus. Blei. Wand- und Dachflächen der hausförmigen Kästen zusammengenagelt. Firste durch Überlappung geschlossen, ebenso die zuletzt angebrachten Giebel. Inschrift (A) auf dem Coronasarg auf einer der Dachflächen. Beim Wort martir ist ein faustgroßes Stück aus dem Dach herausgebrochen, was einen Riß bis zum unteren Dachende verursacht hat. Der Leopardussarg trägt am unteren Rand einer der Dachschrägen in der Mitte ein gleichseitiges, erhabenes Kreuz, darüber die Inschrift (B) zwischen schwach gezogenen Linien. Ein Kupferabguß beider Inschriften befindet sich heute in der Schatzkammer.1) Buchstaben eingraviert.

Maße: Coronasarg: L. 127, B. 45, H. 67, Bu. 2,6–4 cm. Leopardussarg: L. 121, B. 45, H. 70, Bu. 2,7 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften [1/3]

  1. A

    CLAVDITVR HOC TVMVLO2) MA[RTI]Ra) CORONA BENIGNATERTIVS HIC CAESARb) QVAM DVCENS CONDERAT3) OTT[O]c)

  2. B

    CLAVDITVR HIC MAGNVS LEOPARDVS NOMINE CLARVSCVIVSd) IN OBSEQVIO REGNABAT TERTIVS OTTOe)

Übersetzung:

In diesem Grab ist die fromme4) Märtyrerin Corona eingeschlossen, welche Kaiser Otto III. hierhergebracht und beigesetzt hat.

Hier ist eingeschlossen der große Leopardus mit berühmtem Namen, bei dessen Translation Otto III. regierte.

Versmaß: Hexameter, in (B) leoninisch.

Kommentar

Die beiden Reliquienkästen wurden bei einer Grabung nach dem Bestattungsort Karls d. Gr. im Jahre 1843 in zwei Grüften nördlich bzw. südlich des gotischen Chores im unteren Umgang entdeckt. Nach einer Öffnung und Untersuchung des Inhalts wurden sie wieder in den Grüften verschlossen. Nachdem sie 1910 erneut freigelegt worden waren, erhielten sie nach Entnahme der Reliquien ihren Standort in der Michaelskapelle5).

Leopardus soll unter Julian Apostata6), Corona unter Antoninus Pius den Märtyrertod erlitten haben7). Beider Reliquien gelangten nach Otricoli (Umbrien), von wo Otto III. sie nach Aachen brachte.8) Die Coronareliquien waren vermutlich für ein dem Erlöser und der Hl. Corona geweihtes Kloster auf dem Lousberg bestimmt, dessen Gründung Otto 997 ins Auge faßte, dann aber nicht mehr durchführte.9) Es ist daher anzunehmen, daß Otto die Gebeine von seinem ersten Italienzug mitbrachte, als er auf dem Rückweg von Rom im Juni und Juli 996 durch Umbrien kam.10)

Der Schlichtheit der Reliquiensärge entspricht die äußere Form der Inschriften. Vor allem die Corona Inschrift ist geradezu stümperhaft ausgeführt. Die Buchstabengröße variiert stark, die Zeilenführung ist sehr unregelmäßig. Die letzten beiden Buchstaben der ersten Zeile wurden nachgeritzt, da ein Stück der oberen Schicht des Bleis abgeplatzt war. Da der Text erst 23 cm vom linken Rand entfernt beginnt, mußten am Ende der ersten Zeile die Buchstaben sehr eng gesetzt werden. In der zweiten Zeile sind hingegen bereits die ersten Worte dicht aneinandergedrängt. Die Inschrift auf dem Leopardussarg wurde sicherlich nach der Corona-Inschrift ausgeführt, da hier die Probleme, die bei deren Anbringung entstanden waren, bewußt vermieden wurden. Vor Durchführung der Gravur wurden parallele Linien gezogen, die eine gerade Zeilenführung ermöglichten. Zudem begann man die Zeilen extrem dicht am linken Rand, so daß die Länge des Daches für den Text auf jeden Fall ausreichte.11)

Teichmann sieht einen Widerspruch zwischen den äußeren Merkmalen der Inschriften und ihrer inneren Form. Er vermutet daher, daß sich die Inschriften ursprünglich nicht auf den Särgen, sondern auf Platten an Oktogonpfeilern nahe den Grüften befunden haben. Nach der Errichtung des Corona- und des Leopardusaltars12) seien diese Platten wieder entfernt, ihre Texte nach Entnahme der Reliquien in die Sargdeckel eingeschnitten worden.13) Teichmann versteht obsequium im Sinne von ‚Beerdigung‘ und gelangt zu dem Schluß, daß die Leopardus-Inschrift über die Versenkung der Reliquien in den Grüften in Anwesenheit Ottos III. berichtet. Da die Inschriften aber offensichtlich erst nach dem Tode Ottos III. verfaßt wurden14), sieht er seine Annahme bestätigt, daß Särge und Inschriften ursprünglich voneinander getrennt waren.

In einer Nebenbedeutung ist obsequium aber als ‚Reliquientranslation‘ belegt.15) Ein Verständnis des Wortes in diesem Sinne entspricht dem Textzusammenhang und der historischen Überlieferung bezüglich der Übertragung der Reliquien durch Otto III. Gerade angesichts des Umstandes, daß zumindest die Coronareliquien ursprünglich nicht für die Marienkirche, sondern für eine geplante Neugründung bestimmt waren, ist es wahrscheinlich, daß erst nach dem Tode Ottos III. nicht nur die Inschriften verfaßt, sondern auch die Särge selbst in den Grüften versenkt wurden.16)

Auch der Schriftbefund weist eindeutig ins frühe 11. Jh. und spricht damit gegen eine nachträgliche Übertragung der Verse auf die Särge. Es lassen sich keinerlei Ansätze zur Verwendung unzialer Formen erkennen. Ligatur und Enklave werden jeweils einmal verwendet, allerdings aus Platzmangel, nicht aufgrund eines Gestaltungsprinzips. O, Q und C sind sehr rund ausgeführt, A sowohl spitz als auch mehrfach mit leicht schrägen Hasten und breitem Deckbalken, zweimal ohne Querbalken. N erscheint mehrmals mit eingezogenem Schrägstrich, M mit kurzem oder langem Mittelteil und parallelen wie auch schrägen Hasten. U wird in (B) zweimal eckig verwendet, in (A) bei clauditur spitz mit nach außen gebogener linker Haste.

Aus dem Mittelalter sind nur wenige Beispiele für die Verwendung von Blei für Särge bekannt. Die Gebeine der 999 verstorbenen Äbtissin Mathilde von Quedlinburg wurden in einem bleiernen Sarg bestattet, der in Form und Größe den beiden Aachener Reliquiensärgen entspricht und ebenfalls mit einer eingravierten Inschrift versehen ist.17) Auch der erste Abt von Burtscheid wurde in einem (heute verlorenen) Bleibehältnis beigesetzt, das den Corona- und Leopardus-Särgen geähnelt haben könnte (vgl. DI Aachen/Stadt, Nr. 2).

Textkritischer Apparat

  1. martyr Berndt.
  2. A nachträglich vor das E gesetzt.
  3. Erstes T als Enklave im O, zweites O abgeplatzt.
  4. C durch die Giebelüberlappung verdeckt.
  5. Endbuchstabe nur vorgeritzt.

Anmerkungen

  1. Käntzeler berichtet unzutreffend, es handele sich um die Originalplatten (BJbb 33/34, S. 216). Vgl. auch Kraus und Beissel, Aachenfahrt, die den Irrtum übernehmen.
  2. Zahlreiche Belege für die formelhafte Verwendung dieses Halbverses bei D. Schaller/E. Könsgen, Initia carminum latinorum saeculo undecimo antiquiorum, Göttingen 1977, Nr. 2384–2388; H. Walther, Carmina medii aevi posterioris latina Bd. I/1: Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum, Göttingen 21969, Nr. 2864–2866a, 2869.
  3. Die metrisch passende Form conderat ist aus dem Plusquamperfekt condiderat zusammengezogen. Vgl. Mlat. Wb. Bd. II, Lfg. 8, Sp. 1262.
  4. Zu Belegen für benignus = ‚fromm‘ vgl. Mlat. Wb. Bd. I, Sp. 1448.
  5. Vgl. die Grabungsprotokolle im Diözesanarchiv (Gvo Aachen, Dom 7 a I) und im StA Aachen (Hs. 1048).
  6. AASS Sept. VIII, p. 413ff.
  7. AASS Maii III, p. 265ff.
  8. AASS Maii III, p. 269; AASS Sept. VIII, p. 415. Da Corona gemeinsam mit dem hl. Victor verehrt wurde, überliefern einige Quellen irrtümlich die Translation seiner Gebeine statt der des Leopardus.
  9. E. Wisplinghoff, Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100. 1. Lfg., Bonn 1971, Nr. 1 von 997 Okt. 27. Vgl. Frielingsdorf, S. 228–265.
  10. Vgl. M. Uhlirz, Jbb. d. dt. Reiches unter Otto II. und Otto III., Bd. 2, Berlin 1954, S. 215ff. Anfang 997 traf Otto, von Italien zurückkehrend, in Aachen ein (ebd. S. 230).
  11. Daß dabei der erste Buchstabe durch die Giebelüberlappung überdeckt wurde, belegt, daß die Giebelseite erst nach Anbringung der Inschrift (wieder) geschlossen wurde.
  12. Über den Zeitpunkt der Errichtung der Altäre liegen keine Quellen vor. Sie werden aber in einem um 1200 geschriebenen Passionale erwähnt (Gatzweiler, S. 54).
  13. Teichmann, a. a. O., S. 377.
  14. Beide Inschriften enthalten ein Verb, das sich auf Otto III. bezieht und in einer Vergangenheitsform verwendet wird (regnabat, conderat).
  15. Novum glossarium, T. O, Sp. 143.
  16. Vgl. Giersiepen, a. a. O., S. 338ff.
  17. Vgl. E. Stengel, Die Grabschrift der ersten Äbtissin von Quedlinburg, DA 3, 1939, S. 361–370.

Nachweise

  1. MGH Poetae V, S. 464.
  2. DiözA, Gvo Aachen, Dom 7 a I, fol. 12v, 19v.
  3. P. St. Käntzeler, Die neuesten Nachgrabungen in der Aachener Münsterkirche zur Auffindung der Gruft Karls d. Gr., BJbb. 33/34, 1863, S. 206–223 (215f.).
  4. F. Berndt, Der Sarg Karls d. Gr., ZAGV 3, 1881, S. 97–119 (110f.).
  5. Buchkremer, Baugeschichte, S. 224 u. 228 Anm. 3.
  6. Ders., Grab 1907, S. 195 Anm. 4.
  7. KDM 10, 1, S. 150.
  8. E. Teichmann, Über die heiligen Märtyrer Leopardus u. Corona im Aachener Münster, ZAGV 51, 1929, S. 374–381 (374f.)
  9. H. Giersiepen, Zwei Reliquiensärge aus Blei im Aachener Dom, ZAGV 97, 1991, S. 335–349 (337).

Zitierhinweis:
DI 31, Aachen (Dom), Nr. 16 (Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di031d001k0001608.