Die Inschriften der Stadt Stralsund

6. Die Sprache der Inschriften

Von etwa 860 Inschriften, die sich sprachlich bestimmen lassen, wurden 372 ausschließlich in lateinischer, 136 gänzlich in niederdeutscher und 238 ausschließlich in hochdeutscher Sprache verfasst. Lateinisch-niederdeutsche Mischungen finden sich in fünf, lateinisch-hochdeutsche Mischungen in sechs Fällen. In unterschiedlichen Anteilen weisen 14 Inschriften sowohl niederdeutsche als auch hochdeutsche Formen auf; der Sprachstand von etwa 80 Inschriften kann aufgrund ihres geringen Umfangs lediglich als ‚deutsch‘ bezeichnet werden.

Die Hansestadt Stralsund ist Teil der ostniederdeutschen (ostelbischen) Schreibsprachenlandschaft, für welche die lange Zeit postulierte Dominanz einer ‚lübischen Norm‘ in jüngster Zeit mehr und mehr in Abrede gestellt worden ist.78) Der Literatur zufolge werden in der städtischen Kanzlei Stralsunds seit 1540 hochdeutsche Einflüsse wirksam; bis etwa 1640 verschwindet das Niederdeutsche.79)

Die ältesten Inschriften Stralsunds entstanden im frühen 14. Jahrhundert in lateinischer Sprache. Die ersten niederdeutschen Elemente80) in Form eines Stifternamens weist der Kelch Kat.-Nr. 36 (4. V. 14. Jh.) auf: miserere mei deus enghelke nygestat. Für das 15. Jahrhundert lassen sich nur schlaglichtartig einzelne auswertbare Belege zusammenstellen, die jedoch kaum weitergehende Rückschlüsse auf funktionale Zusammenhänge der Sprachwahl zulassen. Dazu gehören an erster Stelle die bemerkenswerten Bildbeischriften des Retabels der Riemer und Beutler (Kat.-Nr. 56, um 1450) und auch des vielleicht aus Stralsund stammenden, wenig jüngeren Margaretenretabels in Middelhagen. Sie bestehen jeweils aus einzelnen Sätzen, so etwa Hir steit v(n)se here in eneme purpere(n) klede vn(de) leert d(e)me volke de viii stucke der salicheit vn(de) dat se vaste(n), und werden im folgenden Exkurs ‚Niederdeutsch im Kloster?‘ besprochen. Am Ende des 15. Jahrhunderts wurden zwei niederdeutsche Inschriften in Stein angefertigt, ein für die städtische Öffentlichkeit bestimmter Spendenaufruf (Kat.-Nr. 106, 4. V. 15. Jh.) und der Eigentumsvermerk desse sten hort Jacob peters to vn(de) sine(n) eruen auf einer Grabplatte (Kat.-Nr. 28, B, 4. V. 15. Jh.?). Das Gebet eines Sterbenden und damit einen längeren, nahezu vollständig erhaltenen, in Gänze niederdeutschen Text im Kontext von Liturgie und Frömmigkeit zeigt die Grabplatte für Hans Sten (Kat.-Nr. 125, B, E. 15.–A. 16. Jh.). Auf dem für den Hochaltar von St. Jakobi bestimmten Kelch Kat.-Nr. 127 (1503, A) wird nach einer niederdeutschen Stifterinschrift in lateinischer Sprache um die Gebete der Nachwelt ersucht und eine Datumsangabe angefügt. Der 1506 [Druckseite 35] von dem Priester Gerhard Munter in Auftrag gegebene Kelch bietet nach einer Jahresangabe mit lateinischer Anno-domini-Formel eine niederdeutsche Stifterinschrift mit einer Fürbitte (Kat.-Nr. 129, A). Die Bildbeischriften des Franziskusretabels (Kat.-Nr. 140, um 1520–1525), eines Importstücks, wurden in den Jahren unmittelbar vor der Reformation angefertigt.

Exkurs: Niederdeutsch im Kloster?

In der Dorfkirche von Middelhagen (Insel Rügen, Ldkr. Vorpommern-Rügen) ist ein vierflügeliges Retabel erhalten, das in das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert wird81) und auf einer neuzeitlichen Predella steht. Die erste Wandlung des Retabels zeigt acht Szenen aus dem Leben der heiligen Katharina, darunter acht in gotischer Minuskel gemalte niederdeutsche Bildbeischriften, die mit einem deiktischen hir beginnen. Dieses Schnitzretabel wurde bereits im Zusammenhang der Inschriften des ehemaligen Landkreises Rügen bearbeitet, siehe DI 55 (Rügen), Nr. 41. Daher sei hinsichtlich einer Edition der Inschriften und für weitere Informationen grundsätzlich auf diesen 2002 publizierten Artikel verwiesen. Seitdem sind jedoch einige neue Erkenntnisse und plausible Überlegungen zum historischen Kontext des Retabels zutage getreten, die hier in aller Kürze vorgestellt werden sollen. Zunächst wurde als vermutlicher ursprünglicher Standort des Retabels nachdrücklich das Stralsunder Dominikanerkloster ins Gespräch gebracht.82) Zwar wurde diese Provenienz schon im 19. Jahrhundert erwogen,83) jedoch vom Herausgeber des erwähnten Inschriftenbandes mit dem Argument zurückgewiesen, die niederdeutschen Beischriften seien eher so zu deuten, dass das Retabel von Beginn an für „die ländliche Bevölkerung, die keine Lateinkenntnisse besaß“, bestimmt gewesen sei.84) Ungeachtet der Tatsache, dass diese Argumentation von der generell nicht haltbaren Prämisse ausgeht, außerhalb der Städte habe es keine lateinische Schriftkultur gegeben, ist zu konstatieren, dass dem Katharinenretabel zwei weitere Stralsunder Altaraufsätze mit niederdeutschen Beischriften an die Seite zu stellen sind. Das ältere befand sich wohl immer in St. Nikolai (Kat.-Nr. 56, um 1450), das zweite und deutlich jüngere war mit einiger Wahrscheinlichkeit für das Franziskanerkloster St. Johannis bestimmt (Kat.-Nr. 140, um 1520-1525). Beide Stücke weisen ebenfalls bilderklärende Beischriften in niederdeutscher Sprache auf, die mit hir beginnen. Auch eine weitere Beobachtung lässt an der Middelhagener Kirche als ursprünglichem Bestimmungsort des Retabels zweifeln: Eine detaillierte Untersuchung der Altarmensen-Konstruktion ergab, dass es sich bei dem Katharinenretabel nicht um den ursprünglichen Aufsatz für diesen Altarblock handelt.85) Es bleibt also festzuhalten, dass die Frage, wie häufig sich Retabel mit niederdeutschen Inschriften städtischen Pfarr- und vielleicht sogar Klosterkirchen der Region zuordnen lassen, weiterer Untersuchungen und Materialsondierungen bedarf.86) Die Verwendung der niederdeutschen Sprache ist jedenfalls kein ausreichendes Indiz für einen ländlichen Bestimmungsort. Zur Annahme einer frühneuzeitlichen Translokation des Retabels aus Stralsund nach Middelhagen in den Jahren nach 1631 passt auch, dass die Bemalung der Predella mit gotisierendem Maßwerk und Spätrenaissance-Beschlagwerk in den Jahren 1620–1640 erfolgte.87) Im bereits erwähnten Inschriftenband wird diese Predella mit ihren drei Inschriften, der älteren Literatur folgend, noch als neugotisch bezeichnet und in den Anfang des 19. Jahrhunders datiert.88) Links und rechts ist jeweils auf einer kleinen gemalten Tabula ansata in Kapitalis TE DEUM TE / [Druckseite 36] LAUDAMUS und SOLI DEO / GLORIA zu lesen, in der Mitte in Fraktur Es ist hier kein Unterschied: sie sind / allzumal, Sünder und mangeln des Ruh=/mes den sie an Gott haben sollen, und / werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Chris=/tum Jesum geschehen ist. Römer 3,23–24. Während nun die in durchgängig modernen Wortformen ausgeführte Frakturinschrift in der Tat vor nicht allzu langer Zeit entstanden sein muss,89) lassen sich Kapitalisinschriften mit rundem U vereinzelt schon seit dem späten 16. Jahrhundert nachweisen.90) Auch wenn also keine Sicherheit hinsichtlich der Herkunft des Middelhagener Retabels aus dem Stralsunder Dominikanerkloster St. Katharinen besteht, so kann sie doch als wahrscheinlich gelten.91) Die drei genannten Retabel mit niederdeutschen Inschriften sind letztlich auch im größeren Kontext der Frage nach dem Stellenwert von lateinischer und volkssprachiger Schriftkultur im monastischen Bereich des südlichen Ostseeraums von Bedeutung. In diesem Zusammenhang wären letztlich auch die überarbeiteten und schwer verständlichen niederdeutschen Verse im Gewölbe des sog. Remters im Dominikanerkloster (Kat.-Nr. 107, 2. H. 15. Jh.) zu diskutieren.

Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist besonders das Epitaph des Kaufmanns Cord Middelborch hervorzuheben, das zwei Bibelzitate (Kat.-Nr. 185, 1566, B, C), lehrhafte Verse zu Tod und Auferstehung und eine Gedenkinschrift (D) sowie ein Gebet in der Ich-Form (E) trägt. Aufschlussreiche Beispiele für sprachliche Varianten desselben Steinmetzen aus demselben Jahr 1587 für denselben Texttyp ‚Eigentumsvermerk‘ bieten die Steine Kat.-Nr. 216 und Kat.-Nr. 215 (jeweils A): Neben DISSER STEN GEHORDT H(ER) NICLAS SASSEN CATTRINE PRVEZEN VND EREN ERFEN (...) steht DISSE STEIN HORT H(ER) MARTIN WOELEN ELISABETH PRVEZEN VND EREN ERVEN (...). Die jüngsten rein niederdeutschen Inschriften entstanden kurz vor 1630. Sie wurden an einem Leuchter (Kat.-Nr. 312, 1626), auf einer Grabplatte (Kat.-Nr. 317, 1627) und einer Glasscheibe (Kat.-Nr. 318, 1627 o. früher) angebracht. Jedoch lassen sich niederdeutsche Formen bzw. Reste etwa in Grabplatteninschriften auch noch später nachweisen (Kat.-Nr. 355, 1635: Seynen hochdeutsch; Kat.-Nr. 155, C, 1658: Erven einzige niederdeutsche Form).

Die allmähliche Ablösung des Niederdeutschen durch das Hochdeutsche in den Stralsunder Inschriften lässt sich aufgrund der geringen Anzahl von lediglich 14 Belegen, die Formen beider Sprachen aufweisen, kaum nachvollziehen. Viele Inschriften sind darüber hinaus nicht präzise datierbar oder liegen nur noch in erneuertem Zustand vor.92) Einzelne hochdeutsche Einflüsse zeigen ein Eigentumsvermerk auf einer Grabplatte und eine Leuchterinschrift (Kat.-Nr. 217, A, 1588; Kat.-Nr. 224, 1591). Bei den ältesten rein hochdeutschen Inschriften handelt es sich um zwei wenig früher entstandene Bibelzitate auf einem Kelch aus dem Hospital St. Jürgen (Kat.-Nr. 207, 1582, B) und auf einer Gruftplatte (Kat.-Nr. 216, 1587, B; hier jedoch auch die Form THO). Erst aus dem Jahr 1611 stammt der älteste formelhafte Eigentumsvermerk in hochdeutscher Sprache auf einer Grabplatte (Kat.-Nr. 279).

Daneben wurde nach wie vor auch die lateinische Sprache gewählt, zum einen für Grabplatten93) und repräsentative Epitaphien von Stralsunder Honoratioren (Kat.-Nr. 263, 1601–1602, Kat.-Nr. 366, 1637), auch in Versform (Kat.-Nr. 198, 1580), zum anderen für Inschriften aus dem Bereich der städtischen (Kat.-Nr. 178, 1566; auch Kat.-Nr. 307, 1623 o. früher) und individuellen Selbstdarstellung (Kat.-Nr. 183, 1572, Kat.-Nr. 205, 1581 o. früher).

Zitationshinweis:

DI 102, Stralsund, Einleitung, 6. Die Sprache der Inschriften (Christine Magin), in: inschriften.net, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0238-di102g018e009.

  1. Kritisches zur angeblichen ‚lübischen Norm‘ bei Peters, Sprachgeschichte, S. 24; Bieberstedt, Beobachtungen, S. 90f., 112f. »
  2. So Gabrielsson, Verdrängung, S. 148. »
  3. Für den folgenden Überblick wurden lediglich solche Inschriften herangezogen, die auf das Jahr genau oder in einen eng begrenzten Zeitraum datierbar sind, nicht überformt wurden und einen ausreichenden Wortbestand bieten. – Zu kultur- und sprachgeschichtlichen Kontexten niederdeutscher Inschriften vgl. grundsätzlich Wulf, Inschriften niederdeutsch; Schröder, Zeugnisse, bes. S. 113f. »
  4. Vgl. DI 55 (Rügen), Nr. 41 (3. V. 15. Jh.); Kunkel, Werk, S. 320 (um 1480). »
  5. So bei Kunkel, Werk, S. 147–150, auch S. 320–322; zuletzt Kunkel, Altarausstattungen, S. 103f. »
  6. Pyl, Eldena 1, S. 354, vermutete, das Retabel könnte im Zeitraum 1631–1691, als die Halbinsel Mönchgut, auf der Middelhagen liegt, an die Stadt Stralsund verpfändet war, in die Dorfkirche gelangt sein. »
  7. DI 55 (Rügen), Nr. 41, hier S. 46. »
  8. Dazu Kunkel, Werk, S. 149f. »
  9. In diesem Zusammenhang wäre auch zu fragen, ob die sprachlichen Formen dieser niederdeutschen Inschriften eine genauere Lokalisierung erlauben. »
  10. Dazu Kunkel, Werk, S. 321, auf der Grundlage von Holst, Baugeschichte der Dorfkirchen, S. 55. »
  11. DI 55 (Rügen), Nr. 41, hier S. 45. »
  12. Die gilt wohl auch für die in Fraktur gemalte Kamminschrift des Retabels, die in DI 55 (Rügen), Nr. 41, hier S. 47 Anm. 3, wiedergegeben wird. »
  13. Zur Graphie U für älteres V in Stralsund siehe unten, Kap. 7.3»
  14. In einem vergleichbaren Vorgang wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein in Antwerpen gefertigtes Schnitzretabel aus der Stralsunder Nikolaikirche in der Kirche von Waase (Insel Rügen, Ldkr. Vorpommern-Rügen) aufgestellt (Kat.-Nr. 138, um 1520–1525). »
  15. Dies gilt etwa für das Epitaph des Valentin Lafferdt, dessen ursprünglich 1591 gemalte Inschrift 1703 erneuert wurde (Kat.-Nr. 222). »
  16. Vgl. dazu oben, Kap. 5.1.1»