Die Inschriften des Lüneburger St. Michaelisklosters und des Klosters Lüne bis 1550

3. Bemerkungen zu Art und Umfang der Kommentierung

Im folgenden sind 67 Inschriften des St. Michaelisklosters und des Klosters Lüne aus der Zeit bis zum Jahre 1550 bearbeitet. Vornehmstes Ziel dieser wie jeder anderen Inschriftensammlung ist es, Quellenmaterial zur Verfügung zu stellen. Dieses Ziel kann nicht durch bloße Wiedergabe der Texte erreicht werden; ein Benutzer muß nähere Informationen erhalten, etwa über Gestalt und Standort des Inschriftträgers. Die Richtlinien, die den Inschriftenpublikationen der Deutschen Akademien zugrunde liegen, tragen diesen Erfordernissen Rechnung. Um ihnen zu genügen, ist eine intensive Beschäftigung mit jeder einzelnen Inschrift notwendig. Zentrales methodisches Problem ist dabei, bis zu [Druckseite XIII] welchem Grad eine Kommentierung ausgeweitet werden kann oder muß, die über technisch-faktische Erläuterungen hinausgeht. Bereits innerhalb der Inschriftenreihe der Akademien sind in diesem Punkt Unterschiede zu beobachten. Während etwa bei der Herausgabe der Inschriften des Landkreises Bamberg die Kommentare äußerst knapp gehalten sind oder fehlen23), sind die Inschriften der Stadt Göttingen24) und des Großkreises Karlsruhe umfangreich kommentiert25). Auch außerhalb der Reihe erschienene Veröffentlichungen zeigen ein entsprechendes Bild. Ein Beispiel für knappe Kommentierung ist die 1981 publizierte Arbeit von Johannes Dorner über die Inschriften der Stadt Burghausen26), ein Gegenbeispiel die von Rolf Funken vorgelegte Bearbeitung der Bauinschriften des Erzbistums Köln27).

Daß solche Unterschiede auftreten, liegt nicht allein im methodischen Ansatz des jeweiligen Bearbeiters begründet. Da Inschriften auf das engste mit Funktion und Geschichte der Objekte verbunden sind, auf denen sie angebracht sind, ist der Umfang einer Kommentierung auch von der Bedeutung und dem Quellenwert des gesamten Stückes abhängig28). Deshalb ist es von Fall zu Fall notwendig, ausführlich zu kommentieren, damit dem Benutzer Zusammenhänge erkennbar werden. Ohnehin sollte eine Inschriftenedition so angelegt sein, daß der Gehalt der Texte deutlich wird. Nur im Ausnahmefall ist das durch eine knappe Erläuterung oder eine Übersetzung fremdsprachiger Inschriften zu erreichen. Wenn zudem Texte in Verbindung mit bildlichen Darstellungen auftreten, werden sie erst im Zuge einer Interpretation in ihrer ganzen Bedeutung verständlich.

Überlegungen dieser Art haben dazu Veranlassung gegeben, die 67 Inschriften des Michaelisklosters und des Klosters Lüne ausführlich zu kommentieren und, wo immer es erforderlich erscheint, über das Buchstäbliche hinaus den Gehalt der Textaussage zu ermitteln. Anders als der Wortlaut einer Urkunde oder anderer schriftlicher Quellen eignet der Inschrift häufig mehr als nur das Buchstäbliche – formal und inhaltlich. Auf einer Glocke oder einer im übrigen schmucklosen Grabplatte erfüllt eine Umschrift zweifellos wichtige ornamentale Funktionen außerhalb ihrer genuinen Aufgabe, in dauerhafter Form Informationen zu vermitteln und Erinnerung wachzuhalten. Im Zusammenhang mit bildlichen, ikonographischen Darstellungen ist die Inschrift im allgemeinen mehr als nur Erläuterung oder Ergänzung. Der Kreuzfuß aus dem 11. Jahrhundert oder die großen spätmittelalterlichen Teppiche aus Kloster Lüne zeigen, daß eine enge Synthese, eine programmatische Symbiose zwischen Bild und Text besteht29). Gegenstände wie diese haben Vorgänge und Ideen ihrer Entstehungszeit aufgenommen, die dem heutigen Betrachter indessen nur in der materiellen Form künstlerischer Gestaltung entgegentreten. Um aber das Geistige der Entstehungszeit wieder vergegenwärtigen zu können, also auch den Gehalt der Inschriften zu verdeutlichen, muß bei solchen Objekten ausführlich kommentiert werden.

Damit aber werden viele Bereiche der Geistes- und Kunstgeschichte berührt. Daraus ergibt sich ein weiterer Gesichtspunkt. Wenn Lessing in seinen kunsttheoretischen Betrachtungen feststellt, im Gegensatz zur Poesie erschließe sich die Malerei dem Menschen simultan30), so ist diese Auffassung, auf die Gesamtheit der Phänomene bildender Kunst übertragen, auch für die Kommentierung der Inschriften zu berücksichtigen: Texte erschließen sich als solche zwar sukzessiv, in der Kürze einer Inschrift aber und zudem in Verbindung mit ikonographischen Programmen erscheinen sie simultan. Folge davon ist, daß die Kommentare die Elemente der Gesamtaussage ermitteln müssen.

Alle diese Überlegungen treffen sich mit Gedanken, die Ferdinand Piper in seiner 1867 erschienenen „Einleitung in die monumentale Theologie” formuliert hat31). Seinem methodischen Ansatz ist die hier vorgelegte Abhandlung im Prinzip verpflichtet, zumal ihre Gegenstände dem sakralen Bereich entstammen. Piper verweist darauf, daß sich die Kirche zum Zweck des Kultus der bildenden Kunst bedient. Die Kunst „ist im Stande, nicht bloß im Gebiet des räumlichen Geschehens dem Wahrnehmbaren Dauer zu verleihen, das Vergangene zu vergegenwärtigen; sie reicht auch an das Uebersinnliche und hat die Macht der Ideen. Und gerade auf diesem Gebiet liegt ihre letzte Aufgabe. In beidem aber [Druckseite XIV] ist ihre Verwandtschaft mit der Religion zu erkennen”32). Die kirchliche Kunst richtet sich nach Piper vornehmlich an die Gemeinde und ist von Exegese wie Dogmenbildung beeinflußt, wie sie auf der anderen Seite auf beide zurückwirken kann. Die Kunstwerke gerade des Mittelalters sind mit Inschriften versehen in dem „Streben das der Anschauung dargebotene auch noch in das Wort zu fassen”33), weniger um Verständnischilfen zu geben. Vor allem aber verfolgen die Textzusätze den Zweck, „den Ueberschuss an Sinn, der künstlerisch keinen Ausdruck finden konnte, durch das Wort wiederzugeben”34). Piper faßt Kunstdenkmäler und Inschriften als Gegenstände, als die konstitutiven Elemente seines Begriffes der „monumentalen” Theologie auf, die er den übrigen Zweigen der Theologie gleichberechtigt an die Seite stellt. Das hermeneutische Prinzip, das aus dieser Theorie erwächst, ist hier, falls erforderlich, für die Bearbeitung der Inschriften zugrunde gelegt worden, um die Idee sichtbar werden zu lassen, die in die materielle Kombination von Bild und Text eingeflossen ist. Damit soll erreicht werden, das Geistige der Enstehungszeit zu ermitteln und damit dem gerecht zu werden, was mit aller Kommentierung angestrebt ist: die Inschriften in ihren historischen und inhaltlichen Kontext zu stellen.

Zitationshinweis:

DI 24, Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne, Einleitung, 3. Bemerkungen zu Art und Umfang der Kommentierung (Eckhard Michael), in: inschriften.net,   urn:nbn:de:0238-di024g002e005.

  1. DI XVIII (Bamberg). »
  2. DI XIX (Göttingen). »
  3. DI XX (Karlsruhe). »
  4. Dorner, Inschriften.  »
  5. Funken, Bauinschriften. »
  6. Eine ähnliche Auffassung vertritt Robert Favreau in seiner Einführung in die mittelalterliche Epigraphik: „Témoignage sur la culture et la vie des siècles passés, l’épigraphie médiévale est une science qui intéresse un large éventail de disciplines. C’est à la fois sa difficulté et son prix”: Favreau, Les Inscriptions, S. 126. »
  7. Vgl. Nr. 2, 57, 60. »
  8. Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Lessings Werke, hg. von Wölfel, Bd. 3, bes. S. 87–91. »
  9. Piper, Einleitung. »
  10. Piper (wie Anm. 31), S. 27.  »
  11. Piper (wie Anm. 31), S. 38. »
  12. Piper (wie Anm. 31), S. 39. – S. 817–908 gibt Piper einen Überblick zur Geschichte der christlichen Epigraphik, der durch neuere Veröffentlichungen freilich überholt ist. »