Die Inschriften des Lüneburger St. Michaelisklosters und des Klosters Lüne bis 1550

2. Zur Überlieferung der nicht erhaltenen Inschriften

Wenn es Sinn einer Inschriftensammlung sein soll, einen Quellenfundus bereitzustellen, so ist auf eine möglichst breite Materialbasis Wert zu legen. Folgerichtig verlangen die Bearbeitungsrichtlinien des von den Deutschen Akademien der Wissenschaften getragenen Inschriftenwerkes, nicht nur die erhaltenen Inschriften zu inventarisieren, sondern auch verlorene Objekte aus der schriftlichen Überlieferung zu ermitteln17).

Diese Auflage hat dazu geführt, daß für die gesamte Stadt Lüneburg in ihren heutigen Grenzen bis zum Jahre 1650 etwa 1000 Inschriften nachzuweisen sind, von denen nur etwa 350 im Original vorliegen. Dieses Ergebnis ist Zeichen für reichhaltige und qualitätvolle schriftliche Überlieferung im Arbeitsbereich. Dabei konnte nicht nur auf zufällige Streuüberlieferung, sondern vor allem auf umfangreiche Inschriftensammlungen zurückgegriffen werden, die weniger Kloster Lüne, sondern vornehmlich das Michaeliskloster einbeziehen. Dieser Umstand wirkt sich besonders deshalb günstig aus, weil für diesen Standort nur wenige Originale erhalten sind; von den 34 Inschriften des Michaelisklosters befinden sich überdies nurmehr drei in situ18). Die im folgenden vorzustellenden vier Handschriften bieten gerade für die Abtei St. Michael wertvolles Material.

  1. Jakob Rikemann, Libellus omnium Epitaphiorum Luneburgensium, 1587 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 219 Extrav.). – Die schmucklose Handschrift umfaßt 62 Blatt, von denen fol. 1,3–21, 23–31, 32, 33, 36–47, 50–61 auf beiden Seiten beschrieben sind. Der Untertitel lautet: Libellus inscriptionum monumentorum sepulchralium et epitaphiorum Luneburgicorum, quae in omnibus templis et coemiteriis visuntur et leguntur, paratus Anno Domini 1587 a Iacobo Rikemanno Luneburgensi et ecclesiae Bardewicensis vicario. Rikemann bietet 357 Inschriften von Grabdenkmälern der Lüneburger Kirchen (St. Michaelis, St. Johannis, St. Lamberti, St. Nicolai), des Hospitals St. Spiritus, des Johannis- und des Gertrudenfriedhofs sowie des Stifts Bardowick. Die Sammlung entstand im wesentlichen 1587, bis 1614 wurden einige Nachträge hinzugefügt. Über Rikemann hat sich außer seiner Beziehung zum Stift Bardowick bisher nichts Näheres ermitteln lassen. Sein Inschriftencorpus bietet im allgemeinen nur den Inschrifttext, Angaben zum Inschriftträger fehlen. Für die Objekte aus der Johanniskirche werden Standortbestimmungen mitgeteilt. Daraus ergibt sich, daß Rikemann in der Aufnahme systematisch nach der durch die örtlichen Verhältnisse gegebenen Reihenfolge vorging, also Rückschlüsse auf den Platz der jeweils verzeichneten Gegenstände möglich werden. Alle Zahlen sind in arabischen Ziffern wiedergegeben, auch scheinen Schreibweise und Lautstand der Texte normalisiert zu sein. Daß aber der Grundbestand der Inschriften im wesentlichen korrekt überliefert wird, läßt sich an paralleler Überlieferung, etwa bei Gebhardi oder Büttner (s. unten), nachprüfen. Welcher außerordentlich hohe Quellenwert der Rikemann’schen Sammlung zukommt, geht allein daraus hervor, daß von den stadtlüneburgischen Inschriften, die er anführt, nur noch eine im Original und drei weitere als Fragment erhalten sind. Rikemanns „Libellus” ist nicht nur für die Bearbeitung der Lüneburger Inschriften von Bedeutung, sondern wirft zugleich ein Licht auf den kulturellen Horizont, der für das Ende des 16. Jahrhunderts offensichtlich für Lüneburg vorauszusetzen ist. Rikemann steht in unmittelbarer Nähe der humanistischen Tradition, die sich den Inschriften zuwandte und ihren Quellenwert erkannte19). [Druckseite XII] Keine der bisher im Rahmen des Inschriftenwerks der Akademien erschienenen Bände hat auf eine geschlossene Sammlung dieses Umfangs und dieses Alters zurückgreifen können.
  2. Ludwig Albrecht Gebhardi, Collectanea, 15. Bde., 1762–1798 (Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Ms. XXIII, 848–862). – Wie sein Vater Johann Ludwig Levin (1699–1764) war auch Ludwig Albrecht Gebhardi (1735–1802) Lehrer an der Ritterakademie in Lüneburg20). Nach einem 1751 an der Universität Göttingen aufgenommenen Studium wurde er 1765 dritter Lehrer an der Akademie. Der Ertrag seiner weitgespannten antiquarischen und historischen Interessen liegt in den 15 Foliobänden seines Nachlasses vor. Sie enthalten wissenschaftliche Abhandlungen aus verschiedenen Gebieten, Abschriften von Originalurkunden, Abschriften von Publikationen, Exzerpte und kunsthistorisch ausgerichtete Inventare. Gebhardis besonderes Interesse galt dem Michaeliskloster. Seine Kollektaneen bieten umfangreiche und detaillierte Aufnahmen der mittelalterlichen Kunst- und Ausstattungsgegenstände, ergänzt durch Zeichnungen, die von ihm selbst, seinem Bruder Just Heinrich oder dem Zeichenlehrer der Akademie angefertigt wurden. Inschriften wurden als Teil des Ganzen stets berücksichtigt, so daß die Kollektaneen gerade für das Michaeliskloster von besonderem Wert sind, weil die Inventarisierung auf die Zeit vor dem Umbau der Kirche unter Friedrich Ernst von Bülow zurückgeht. Weitere Hinweise liefert die in Band 14 und 15 enthaltene, ungedruckte Geschichte des Klosters, die Gebhardi gegen Ende seiner Tätigkeit in Lüneburg verfaßte, bevor er 1799 eine Stelle als Bibliothekar und Archivar in Hannover übernahm.
  3. Ludwig Albrecht Gebhardi, Verzeichnis der Kostbarkeiten und Alterthümer der Güldenen Tafel, 1766 (im Besitz des Museumsvereins für das Fürstentum Lüneburg). – Die 37,4 cm hohe und 23,8 cm breite, 28 Blatt umfassende Handschrift in schmucklosem Pappeinband enthält ein Inventar des Reliquienschatzes aus dem Altar mit der goldenen Tafel des Michaelisklosters21). Falls vorhanden, werden auch die Inschriften der Gegenstände verzeichnet. Eine zweite Fassung dieser Aufstellung findet sich im fünften Band der Kollektaneen, S. 208–220.
  4. Ludwig Albrecht Gebhardi, Verzeichniß der im Museum der Lüneburgischen Ritter-Academie vorhandenen Sachen. Erster Band. Alterthümer, statistische, diplomatische, heraldische, numismatische und Kunstsachen, physicalische und mathematische Werckzeuge, 1796, mit Nachträgen von 1799 und 1801 (im Besitz des Museumsvereins für das Fürstentum Lüneburg). – Die Handschrift ist 37,5 cm hoch und 24,5 cm breit und in einen schmucklosen Pappeinband mit Lederrücken und -ecken gebunden. Auf vier Vorsatzblätter folgen 413 paginierte Seiten. Es handelt sich um den Katalog der im Museum der Ritterakademie verwahrten Gegenstände. Dieses Museum wurde 1792 auf Veranlassung des Landschaftsdirektors Friedrich Ernst von Bülow eingerichtet22). Sofern die Objekte Inschriften besitzen, sind diese mitgeteilt.
  5. Außer dieser handschriftlichen Überlieferung ist eine ältere Publikation von besonderem Interesse, die eine reichhaltige Sammlung Stadtlüneburger, heute weitgehend nicht mehr erhaltener Inschriften bietet und deshalb die Glaubwürdigkeit der Rikemann’schen Überlieferung zu beweisen geeignet ist:
  6. Johann Heinrich Büttner, Genealogiae oder Stamm- und Geschlecht-Register der vornehmsten Lüneburgischen Adelichen Patricien-Geschlechter, ..., Lüneburg 1704. – Die Arbeit enthält in alphabetischer Reihenfolge Stammtafeln, denen stets eine kurze historische Einleitung und eine Beschreibung des von der jeweiligen Familie geführten Wappens beigegeben ist. Als Quelle dienten Büttner zum Teil die Inschriften von Grabdenkmälern. Die meisten von ihnen druckt er im Anhang zu den jeweiligen Stammtafeln ab, um seine Arbeitsweise transparent zu machen.

Zur Ermittlung von Inschriften des Michaelisklosters und des Klosters Lüne sind das Rikemann’sche Corpus und Gebhardis Kollektaneen am ertragreichsten.

Zitationshinweis:

DI 24, Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne, Einleitung, 2. Zur Überlieferung der nicht erhaltenen Inschriften (Eckhard Michael), in: inschriften.net,   urn:nbn:de:0238-di024g002e005.

  1. Vgl. Kloos, Inschriften, S. 350. »
  2. Behandelt unter Nr. 17, 43 und 44 (eine Grabplatte und zwei Glocken). »
  3. Vgl. Kloos, Epigraphik, S. 8 f. »
  4. Vgl. Körner, Leitfaden, S. 23.  »
  5. Vgl. über den Altar Nr. 16. »