Die Inschriften der Stadt Lemgo

3. Die Schriftarten

Der Bestand Lemgo wird dominiert von der Schriftform der Renaissancekapitalis, die hier für alle Arten von Inschriften seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verwendet wird. Da ca. 80 Prozent des kleinen Inschriftenbestandes in die Zeit von 1550 bis 1650 fallen, treten die älteren Schriftarten nur vereinzelt auf, ohne daß sich daran besondere Charakteristika entwickeln ließen.

Die ältesten im Original erhaltenen Inschriften zeigen eine voll ausgebildete gotische Majuskel mit abgeschlossenen Buchstaben. Dabei handelt es sich um zwei Glocken, von denen die eine auf 1398 datiert ist (Nr. 3) und die andere aus dem 14. Jahrhundert stammt (Nr. 7). Ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert stammt die älteste gotische Majuskel in Stein auf einem Grabplattenfragment (Nr. 8); von der sorgfältig eingehauenen Inschrift haben sich jedoch nur wenige Buchstaben erhalten. Erwähnenswert ist noch die in Kreuzstich ausgeführte Inschrift in gotischer Majuskel auf einem Korporalienkästchen (Nr. 25), das wohl im 15. Jahrhundert entstanden ist.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 3 - St. Johann extra muros, Glocke - 1398

Die älteste gotische Minuskel Lemgos auf der Tumbenplatte in St. Marien (Nr. 2) stammt aus der Zeit nach 1387, als diese Schriftart schon weit verbreitet und voll ausgeprägt war. Als Besonderheiten weist die eingehauene Inschrift Zierstriche und v mit linksschräger linker Haste auf. Bei den chronologisch folgenden Beispielen der gotischen Minuskel handelt es sich um verschiedene Wandmalereien in St. Marien und St. Nikolai (Nr. 4, 5, 6, 10), die alle in einem derartig schlechten Erhaltungszustand sind, daß sich keine Aussagen über Besonderheiten der Schriftgestaltung machen lassen. Die weiteren in Stein ausgeführten Inschriften in gotischer Minuskel zeigen mit einer Ausnahme keine nennenswerten Besonderheiten, zumal es sich oft nur um Baudaten handelt; der überwiegende Teil ist eingehauen, der kleinere Teil erhaben gehauen. Lediglich die lange, erhaben gehauene Inschrift am Haus Mittelstr. 56 (Nr. 47) von 1556 ist zu erwähnen, der sowohl durch ihre Versalien als auch durch die Schleifenbildungen an den Enden der gespaltenen Oberlängen ein besonderer Schmuckcharakter zukommt.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 47 - Mittelstr. 56, Bürgerhaus - 1556

Die Buchstabenformen der gotischen Minuskel sind hier bewahrt, auch wenn die Buchstaben mit Zierelementen aus dem Bereich der Fraktur versehen sind. Für die sehr dekorativen spätmittelalterlichen Goldschmiedeinschriften in gravierter gotischer Minuskel mit zahlreichen Zierelementen gibt es in Lemgo ein Beispiel auf einem Kelch aus dem 15. Jahrhundert (Nr. 24). Besonders aufwendig gestaltet sind hier die Worttrenner in Gestalt von Blattornamenten, die aus den vorangehenden Buchstaben hervorwachsen.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 25 - WRM Schloß Brake, Kelch - 15. Jh.

Unter den drei erhaltenen Glocken mit Inschriften in gotischer Minuskel (Nr. 18, 32, 44) zeichnet sich die kleine [Druckseite 21] Glocke in St. Marien (Nr. 44) durch die auffallend scharfen Konturen der erhaben gegossenen Inschrift und die tropfenförmigen Verzierungen an den Buchstabenenden aus.

Die Schriftform der Fraktur wurde in Lemgo im wesentlichen in gemalter Ausführung verwendet. Es gibt jedoch daneben drei Beispiele für in Stein ausgeführte Fraktur, die jeweils in Kombination mit anderen Schriftarten vorkommt. Auf dem Epitaph des Moritz von Donop von 1587 (Nr. 104) sind die als Bildbeischriften dienenden lateinischen Bibelzitate, der Stiftervermerk und die Wappenbeischriften in Kapitalis ausgeführt, die lateinische Versgrabschrift in humanistischer Minuskel und die in Reimvers abgefaßte deutsche Grabschrift in Fraktur. Dem ausgefeilten Bildprogramm des Epitaphs entspricht damit die sorgfältige Auswahl verschiedener Schriftarten für die unterschiedlichen Texte. Während die humanistische Minuskel und fast alle Kapitalisinschriften erhaben gehauen sind, ist die Frakturinschrift des Donop-Epitaphs eingehauen. Als besonderes Merkmal zeigt sie die durchgängige Verwendung des Bogen- r. Bei den Frakturinschriften auf den Taufanlagen von St. Marien von 1592 (Nr. 119) und St. Nikolai von 1597 (Nr. 128), die beide aus der Werkstatt des Bildhauers Georg Crosmann stammen, sind die Frakturinschriften erhaben gehauen.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 128 - St. Nikolai, Taufanlage - 1597

Sie weisen übereinstimmende Merkmale auf wie h mit nach links unter die Zeile ausgezogenem Bogen und k mit verkürztem unteren und zur Haste zurückgebogenem oberen Schrägbalken. Die Regel ist eine solche einheitliche Schriftgestaltung auf Werken derselben Werkstatt keineswegs. Das zeigt bereits die unterschiedliche Ausführung der verschiedenen Kapitalisinschriften auf der Taufanlage von St. Nikolai (vgl. den Kommentar zu Nr. 128).

Dieselbe Werkstatt läßt sich aufgrund der Schrift mit Sicherheit nur für drei Epitaphien mit in humanistischer Minuskel ausgeführten Inschriften annehmen. Dabei handelt es sich um die Grabdenkmäler von Johann (Nr. 156) und Dietrich Cothmann (Nr. 160) aus den Jahren 1604 und 1606 sowie für Johannes Blasius von 1606 (Nr. 161).

LWL-Denkmalpflege, Landschafts- u. Baukultur in Westfalen | DI 59, Nr. 161 - Städt. Museum, Fragmente des Epitaphs für Johannes Blasius - 1606

Die Epitaphien werden aus stilistischen Gründen der Werkstatt des Georg Crosmann zugeschrieben. Ihre Inschriften in humanistischer Minuskel zeigen sowohl gewisse Übereinstimmungen als auch Abweichungen zu der von Crosmann angefertigten Künstlerinschrift in derselben Schriftart auf der Nikolaitaufe (Nr. 128). Der Lemgoer Bestand bietet insgesamt zwar nur wenige, aber sehr qualitätvolle Beispiele von in Stein ausgeführter humanistischer Minuskel auf den mit langen lateinischen Inschriften versehenen Epitaphien aus der Zeit um 1600 (Nr. 104, 112, 153, 156, 160, 161, 172).9) Bereits hingewiesen wurde auf die entsprechende Inschrift auf dem Epitaph des Moritz von Donop (Nr. 104) von 1587, bei der es sich um eine besonders reine Ausprägung dieser Schrift mit stumpf auf der Zeile endenden Hasten sowie f und Schaft- s ohne Unterlängen handelt.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 104 - St. Nikolai, Epitaph für Moritz von Donop - 1587

Auf dem Epitaph für Dietrich Cothmann von 1603 (Nr. 153) finden sich zwei unterschiedliche Ausprägungen der Schrift, die eine rechtsgeneigt, die andere senkrecht ausgerichtet, um die verschiedenen Bibelzitate voneinander abzuheben. Sämtliche Inschriften in humanistischer Minuskel auf Stein sind erhaben gehauen.

Die Renaissancekapitalis ist die im Lemgoer Inschriftenbestand vorherrschende Schrift. Für ihren Vorläufer, die frühhumanistische Kapitalis, finden sich lediglich drei Beispiele (Nr. 43, 91, 105), die jedoch alle aufgrund ihrer Ausführung wenig aussagekräftig sind. Darüber hinaus gibt es noch Kapitalisinschriften, in denen einzelne Elemente der frühhumanistischen Kapitalis verwendet sind (Nr. 50, 68, 78, 85, 87, 191).

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 50 - Echternstr. 6/8, ehem. Adelshof - 1560

Die Renaissancekapitalis der Lemgoer Inschriften entspricht in den meisten Fällen nicht dem klassischen Vorbild mit regelmäßig proportionierten breiten Buchstaben. Eine Ausnahme stellen die gemalten Inschriften auf den aus Schloß Brake stammenden Täfelungsbrettern aus der Zeit um 1600 dar (Nr. 138), die sich in der Gestaltung der Buchstaben mit Haar- und Schattenstrichen sowie Sporen eindeutig am klassischen Vorbild orientieren und auch inhaltlich durch Bezug auf die Heraklessage von der Antike bestimmt sind.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 138 - WRM Schloß Brake, Täfelungsbretter - um 1600

Im allgemeinen sind die Buchstaben der Kapitalisinschriften in Lemgo eher schmal und oft rechtsgeneigt; die Inschriften in Stein und Holz sind zum überwiegenden Teil erhaben ausgeführt, nur die anspruchsloseren Schriften sind eingehauen oder eingeschnitzt. Die Qualitätsunterschiede in der Ausführung der einzelnen Kapitalisinschriften sind beträchtlich, selbst wenn man nur diejenigen am Rathaus aus der Zeit um 1600 (Nr. 108, 109, 176) oder die aus einer Werkstatt stammenden Inschriften auf der Taufanlage von St. Nikolai (Nr. 128) jeweils untereinander vergleicht.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 59, Nr. 73 - Breite Str. 19, sog. Hexenbürgermeisterhaus - 1571

Die mit [Druckseite 22] Abstand eleganteste Kapitalisinschrift in Stein findet sich über dem Portal des Hauses Breite Str. 19 (Nr. 73). Die leicht rechtsgeneigten hohen, schlanken Buchstaben zeigen einen Wechsel von Haarund Schattenstrichen bei N und M, keilförmig verbreiterte Schaft- und Balkenenden besonders bei A, L und V sowie ausgeprägte Sporen. Die in Stein ausgeführten Kapitalisinschriften weisen insgesamt eine höhere Qualität in der Ausführung auf als die in Holz ausgeführten. Vor allem bei den Lemgoer Hausinschriften in Fachwerk hatte der Inhalt offenbar einen höheren Stellenwert als der Schmuckcharakter der einzelnen Buchstaben.

Eine Entwicklung innerhalb der Kapitalis dieses Inschriftenbestandes läßt sich nicht beobachten. Auch die Buchstaben M und U/V bieten hier keine Anhaltspunkte für eine zeitliche Einordnung. Von Beginn an tritt M in gerader oder konischer Form, mit kurzem oder bis zur Grundlinie herabgezogenem Mittelteil auf. Rundes U ist erstmals auf den Epitaphien Nr. 153, 156 und 161 von 1603, 1604 und 1606 verwendet, und zwar offenbar beeinflußt von der jeweils in derselben Inschrift neben der Kapitalis stehenden humanistischen Minuskel, ähnlich auch in dieser Kombination auf dem Epitaph Nr. 172 von 1611. Das erste Beispiel für runde U in ausschließlich aus Kapitalis bestehenden Inschriften findet sich an der Apothekenauslucht von 1612 am Rathaus (Nr. 176) – allerdings noch im Wechsel mit V-Schreibung. Durchgängig ist rundes U unter den original überlieferten Inschriften nur in zwei Fällen verwendet: auf einem Gemälde (Nr. 199) aus dem Jahr 1628 und in gemalten Tituli von nur ungefähr auf die Zeit um 1645 datierten Apostelfiguren (Nr. 221). Ansonsten bleibt im Lemgoer Inschriftenbestand die V-Schreibung bis zum Ende des hier behandelten Zeitraums in Gebrauch.

SW

Zitationshinweis:

DI 59, Lemgo, Einleitung, 3. Die Schriftarten (Sabine Wehking), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di059d006e007.

  1. Zur Schriftart der humanistischen Minuskel in Lemgo vgl. Fuhrmann, Humanistische Minuskel, passim. Fuhrmann betont die Gemeinsamkeiten der in Stein ausgeführten Inschriften in humanistischer Minuskel und schreibt sie Georg Crosmann und seinem Sohn Ernst bzw. deren Werkstatt zu. »