Die Inschriften des Landkreises Northeim

Einleitung zum Teil “Die Inschriften des Kanonissenstifts Gandersheim und seiner Eigenklöster Brunshausen und Clus”

3. Baugeschichte und sakraltopographische Einordnung der Inschriftenstandorte

3.1. Die Gandersheimer Stiftskirche

Die Baugeschichte der Gandersheimer Stiftskirche St. Johannes Baptista, St. Anastasius und St. Innozenz wurde zunächst von Karl Steinacker (1910) aufgrund der Baubefunde erarbeitet und von Hans Goetting (1973) durch die archivalische und urkundliche Überlieferung ergänzt und diskutiert. Auf der Basis dieser Arbeiten veröffentlichte Uwe Lobbedey 2006 seine „Bemerkungen zur Baugeschichte der Stiftskirche in Gandersheim“. Wesentliche neue Erkenntnisse zur Sakraltopographie der Stiftskirche brachte die 2010 erschienene Monographie von Christian Popp zum Reliquienbesitz des Frauenstifts, inbesondere die dieser Arbeit beigegebene Edition des Gandersheimer Liber ordinarius „Registrum chori ecclesie maioris Gandersemensis“ sowie der [Druckseite 430] einschlägige Artikel desselben Autors im Niedersächsischen Klosterbuch. Diese Arbeiten liegen den folgenden knappen Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der Kirche zugrunde.9)

Die Stiftskirche präsentiert sich heute als kreuzförmige Basilika mit vorgelagertem zweitürmigem Westbau. Das Langhaus besteht aus einem flachgedeckten Mittelschiff, das durch Arkaden mit Stützenwechsel von den beiden gewölbten Seitenschiffen getrennt wird. Langhaus und Arkaden dürften nach einem Brand und der Wiederherstellung der Kirche unter der Äbtissin Adelheid II. (1061–1096) begonnen worden sein.10) In diesen Bauzusammenhang ist auch die unterhalb der Vierung und des Chors gelegene Hallenkrypta zeitlich einzuordnen.

Die Seitenschiffe wurden im späten Mittelalter durch gotische Kapellenanbauten (Nr. G67) erweitert.11) Die älteste, Johannes dem Täufer geweihte Kapelle liegt im Osten des südlichen Seitenschiffs, nach Westen schließt sich die St. Bartholomäuskapelle an, die der Subdiakon Heinrich von Sebexen 1344 stiftete (Nr. G12). Wiederum in westlicher Richtung folgt die 1345 von dem Kanoniker Bertold vom Winkel gestiftete zweijochige Peter- und Paulskapelle.12) Am nördlichen Seitenschiff wurden zwei gotische Kapellen angebaut: im Westen die von Arnold von Roringen im Jahr 1452 gestiftete Antoniuskapelle (Nr. G15) und im Osten die Andreaskapelle.

Der östliche Teil der Kirche besteht aus einem Querhaus mit Vierung und zwei quadratischen Querhausarmen. Der Vierung schließt sich ein querrechteckiges Chorjoch mit halbrunder Apsis an. An die Querarme grenzen im Osten zwei Kapellen: Im Norden die als Chor der Kanonissen13) und als Grablege der Äbtissinnen dienende Marienkapelle (Nr. G10, G11, G19, G51 Grablege einer Kanonisse, G62) mit einem Marienaltar, für den im 16. Jahrhundert die Bezeichnung de brede steyn („Breitenstein“) üblich wurde. Gegenüber der Marienkapelle, südlich vom Chor, liegt die von außen zugängliche Stephanuskapelle mit dem Pfarraltar für die Stiftsfamilia; sie war der zentrale Ort für die Verehrung des Stifters Liudolf.14)

Der Westteil der Kirche besteht aus einem zweigeschossigen Querbau15) und einer vorgelagerten Turmanlage, deren einer Turm bereits im Jahr 926 geweiht wurde. Der Westbau ist im Bereich des Untergeschosses zusammen mit dem Langhaus und der Krypta im Rahmen der Baumaßnahme unter Äbtissin Adelheid II. entstanden, der obere Teil des Westbaus folgte sukzessiv bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. Seine Vollendung erfolgte vielleicht im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen unter Äbtissin Adelheid IV. (1152–1184), in deren Regierungszeit die Stiftskirche nach dem dritten großen Brand 1168 neu geweiht und vermutlich in der Folgezeit mit Wand- und Glasmalereien ausgestattet wurde (Nr. G7, G8). Das Obergeschoss des Westbaus besteht aus einem Mittelraum mit einer halbrunden Nische in der Westwand, seine Ost-, Nord- und Südwand sind mit durch Säulen unterteilten Öffnungen versehen. Die ursprüngliche Funktion dieses Raumes ist unbekannt. Seine heutige Bezeichnung „Fräuleinchor“ wurde erst im 18. Jahrhundert üblich. Der Kanonissenchor befand sich aber nicht hier, sondern – wie gesagt – auf der Nordseite in der Marienkapelle. Südlich und nördlich schließen sich an den repräsentativen Mittelraum des Westbaus zwei weniger exponierte Seitenräume an. Der südliche wird als „die Vision“ bezeichnet, weil Herzog Liudolf hier seine Vision gehabt haben soll, die ihn veranlasste, das Stift von Brunshausen nach Gandersheim zu verlegen.16) Dieser Raum diente im 17. Jahrhundert als Archiv [Druckseite 431] (Nr. G61), heute beherbergt er zusammen mit dem nördlichen Seitenraum einen Teil der Ausstellung „Portal zur Geschichte – Bad Gandersheim“.

Größere Veränderungen erfuhr der Baubestand der Stiftskirche zunächst mit der Einführung der Reformation: 1570 wurde der Lettner der Stiftskirche abgebrochen.17) Im 18. Jahrhundert wurde die Apsis erneuert. In den Jahren 1848 bis 1850 unterzog man das Innere der Kirche einer grundlegenden Umgestaltung. Im 20. Jahrhundert veränderten mehrere Restaurierungs- und Konservierungsmaßnahmen erneut das Innere der Kirche.18)

Von der mittelalterlichen Klosteranlage ist kaum etwas erhalten. Goetting zufolge befand sich der Kreuzhof mit den Gemeinschaftsbauten im 12. Jahrhundert im Norden der Stiftskirche.19) Zusammenhängende, auch durch Inschriften bezeugte Baunachrichten (Nr. G43, G44, G45, G46) sind lediglich für die Abtei überliefert: Die Abteigebäude brannten im Jahr 1597 vollständig ab und wurden auf Veranlassung der Äbtissin Anna Erica von Waldeck (1589–1611) durch den Baumeister Heinrich Ovekate wieder aufgebaut.20).

3.2. Die Klosterkirche St. Bonifatius in Brunshausen

In Brunshausen hat sich ein im Wesentlichen spätgotischer Kirchenbau erhalten, dem – wie die Grabungen in den 1960er Jahren erkennen ließen21) – vier verschiedene Bauphasen voraufgegangen waren: Bau I und II sind in der Gründungsphase des Stifts bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden.22) Diese beiden frühen Kirchenbauten entsprechen der bereits vor der Stiftsgründung in Brunshausen bestehenden Eigenkirche der Liudolfinger. Ihnen wurden Putzfragmente mit eingeritzten Inschriften zugewiesen (Nr. G1), die bei den genannten Grabungen im Fundamentschutt der jüngeren, romanischen Südapsis zutage kamen. Die beiden ersten Kirchenbauten wurden bereits bald nach der Mitte des 9. Jahrhunderts durch einen größeren Bau ersetzt, der über einen dreiräumigen Westbereich mit einer Empore verfügte (Bau III). Dieser um 850/60 anzusetzende Bau dürfte dem Konvent bis zur Übersiedlung nach Gandersheim im Jahr 881 als Kirche gedient haben. Es folgte ein vierter, wohl noch vor 1150 begonnener romanischer Bau, dessen Ostapsis an den Rand des Hügelsporns hinausgerückt wurde. Wohl aufgrund dieser ungünstigen Lage stürzte um 1300 die Hauptapsis der Kirche ein. Aus diesem romanischen Bau konnten im Rahmen der genannten Grabung etwa 3000 Scherben der ehemaligen Verglasung geborgen werden (Nr. G9). Der noch weitgehend erhaltene Bau V reduzierte die Anlage auf das Mittelschiff, das südliche Seitenschiff und die daran angrenzenden Teile des Westbaus. Im späten Mittelalter entstanden der rechteckige Hauptchor und das querschifflose Mittelschiff.23) Im Archidiakonatsverzeichnis der Diözese Hildesheim vom Anfang des 16. Jahrhunderts wird Brunshausen als Pfarrkirche bezeichnet.24) Heute ist in der Brunshausener Klosterkirche ein Teil der musealen Präsentation des Portals zur Geschichte untergebracht.25)

3.3. St. Maria und Georg in Clus

Die Klosterkirche St. Maria und Georg in Clus ist als dreischiffige, im Langhaus flachgedeckte Basilika mit Stützenwechsel, ehemals doppeltürmigem Westbau und gotischem Choranbau [Druckseite 432] angelegt.26) Die romanischen Elemente gehören zur ersten Kirche des zwischen 1110 und 1120 gegründeten Klosters. Bis spätestens in die 1130er Jahre hinein wurden die Ostteile, der Chor und das Querhaus errichtet. An diese Partien wurden bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts das nahezu quadratische Langhaus und die westliche Turmfront angefügt.27) Neben kleineren Veränderungen bildete die spätgotische Chorverlängerung von 1485 bis 1487 den einschneidendsten mittelalterlichen Eingriff in die Grundsubstanz der Kirche. Die Erweiterung des Chors war notwendig geworden, weil durch die konsequente Reformierung des Konvents – Clus war die Keimzelle der Bursfelder Reform – das Kloster unter dem Abt Wedego (1460–1505) wirtschaftlichen und personellen Aufschwung genommen hatte (Nr. G16, G17, G20, G22 und G23). Der Konvent hatte zu dieser Zeit etwa 20 Mitglieder.28) Finanziert wurden die Baumaßnahmen unter anderem durch Zuschüsse aus den norddeutschen Hansestädten Bremen, Hamburg und vor allem Lübeck (Nr. G16). Die im Zuge der Reform seit 1446 von Grund auf neu errichteten Klostergebäude – Abtei, Bäckerei, Küche, Refektorium und Dormitorium29) – dienten nach der Aufhebung des Klosters den Gutsverwaltern als Wohnung.30) Von den beiden Kirchtürmen ist nur noch der nördliche erhalten, der südliche wurde zwischen 1750 und 1825 abgetragen.

Zitationshinweis:

DI 96, Northeim, Einleitung Gandersheim, 3. Baugeschichte und sakraltopographische Einordnung der Inschriftenstandorte (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017g004.

  1. Lobbedey, Bemerkungen zur Baugeschichte, passim. Popp, Schatz der Kanonissen, passim. Niedersächsisches Klosterbuch, s. v. (Bad) Gandersheim, Bd. 1, S. 433–450 (C. Popp). S. a. Gepp, Stiftskirche, S. 13–16. »
  2. Vgl. Lobbedey, Bemerkungen zur Baugeschichte, S. 168. »
  3. Vgl. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 31–39. »
  4. Vgl. ebd., S. 32. »
  5. Vgl. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 24f., S. 27. Der mittelalterliche Kanonissenchor lag tatsächlich hier im nördlichen Querhausarm und nicht, wie man im 18. Jahrhundert angenommen hat, im mittleren Raum des Westchors. »
  6. Näheres zur Stiftermemoria s. Popp, Schatz der Kanonissen, S. 50–60 mit Verweisen auf die ältere Forschungsliteratur. »
  7. Vgl. Lobbedey, Bemerkungen zur Baugeschichte, S. 168. »
  8. Vgl. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 103. »
  9. Vgl. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 24. »
  10. Zu den jüngeren Maßnahmen siehe Gepp, Stiftskirche, S. 15f. »
  11. Lageplan in Kdm. Kreis Gandersheim, S. 171. »
  12. Vgl. Goetting, Kanonissenstift »
  13. Soweit nicht anders vermerkt, beruht das Folgende auf Keibel-Maier, Baugeschichte Brunshausen. S. a. Goetting, Benediktiner(innen)kloster Brunshausen, S. 8–11. »
  14. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 39–44, 51–58, 91–129. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 19–26. Goetting, Benediktiner(innen)kloster Brunshausen, S. 6–11, 173–176. Keibel-Maier, Baugeschichte Brunshausen, S. 92–94. »
  15. Vgl. Keibel-Maier, Baugeschichte Brunshausen, S. 95f. »
  16. Niedersächsisches Klosterbuch, s. v. Brunshausen, Bd. 1, S. 261 (Ch. Popp). »
  17. Zur Nutzung der Klosterkirche im 20. Jahrhundert siehe Gepp, Stiftskirche, S. 49ff. »
  18. Vgl. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 51–58. »
  19. Vgl. Goetting, Benediktiner(innen)kloster Brunshausen, S. 173. »
  20. Niedersächsisches Klosterbuch, s. v. Clus, Bd. 1, S. 310 (C. Popp). »
  21. Zu Baumaßnahmen und Ausstattung des Klosters Clus im Zuge der Reform vgl. Herbst, Benediktinerkloster Klus, S. 48–64; hier S. 50. »
  22. Vgl. Goetting, Benediktiner(innen)kloster Brunshausen, S. 181. »