Die Inschriften der Stadt Hannover

2. Die Hannoverschen Inschriften - Einordnung in die Stadtgeschichte1)

Die Stadt Hannover entstand an einem Leineübergang, an dem bereits im 11. Jahrhundert eine Ufersiedlung nachgewiesen werden kann.2) Archäologische Befunde lassen darauf schließen, daß sich in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts um den Vorgängerbau der heutigen Marktkirche herum eine Marktsiedlung entwickelte. Um 1150 wird in den Quellen ein vicus hanovere erwähnt, der sich in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zu der 1189 genannten civitas entwickelte. Begründer der Marktsiedlung waren mit großer Wahrscheinlichkeit die Grafen von Roden. Plath3) vermutet, daß Graf Konrad von Roden in den 60er Jahren des 12. Jahrhunderts seinen Allodialbesitz Hannover Heinrich dem Löwen übertrug und von diesem wiederum mit Hannover belehnt wurde. Der Überlieferung zufolge wurde die Marktsiedlung Mitte des 12. Jahrhunderts von Heinrich dem Löwen ausgebaut und befestigt. 1163 hielt der Herzog einen Hoftag in Hannover ab. Die erste Erwähnung als civitas 1189 steht im Zusammenhang der Zerstörung Hannovers, das Heinrich VI. während eines gegen Heinrich den Löwen gerichteten Kriegszugs einäschern ließ. Mit dem Wiederaufbau der Siedlung setzte die eigentliche Stadtentwicklung Hannovers ein.

Etwa gleichzeitig mit der Stadt wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts auch die Burg Lauenrode auf dem westlichen Leineufer errichtet. Sie diente dem Grafen Konrad II. von Roden als Wohnsitz und ermöglichte eine Kontrolle des Leineübergangs. Der Sohn des Grafen, Konrad III., konnte die Rechtsunsicherheit nutzen, die sich daraus ergab, daß Kaiser Friedrich II. Anspruch auf das Erbe Herzog Ottos von Braunschweig erhob. Von 1227 bis zu seinem Tod 1239 übte Konrad III. weitgehend unbehelligt die Herrschaft über Hannover aus. Der Tod Konrads III. und die inzwischen vollzogene Einigung mit Friedrich II. veranlaßten Otto von Braunschweig 1241, die Herrschaft über Hannover neu zu regeln. Die Grafen von Roden übergaben die Herrschaft über die Stadt dem Braunschweiger Herzog und verblieben lediglich im Besitz der Burg Lauenrode. Zugleich bestätigte Herzog Otto am 26. Juni 1241 Hannover die Stadtrechte, die aus diesem Anlaß urkundlich festgeschrieben wurden. In der Folgezeit gelang es der Stadt, den Landesherren nach und nach Rechte abzugewinnen und ihre Selbstverwaltung auszubauen. Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Hannovers. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts ist in den Quellen erstmalig vom Bau einer Stadtmauer die Rede.4) 1357 gestattete Herzog Wilhelm den Bau von Befestigungswerken und Gräben, mit Ausnahme der zur Burg Lauenrode hin gelegenen Stadtseite. Als sich die Stadt im Lüneburger Erbfolgestreit auf die Seite der sächsischen Herzöge stellte, räumten diese als Gegenleistung neben anderen Privilegien auch die Schleifung der Burg Lauenrode ein.

Bedingt durch die Schwäche der Landesherrschaft hatte die Stadt in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts eine weitgehende Autonomie erreicht und konnte sich – von den Braunschweiger Herzögen einigermaßen unbehelligt – wirtschaftlich und politisch weiterentwickeln. Seine wirtschaftliche Blüte, die in erster Linie auf dem Handel beruhte, erlebte Hannover im 14. und 15. Jahrhundert. Seit dem 13. Jahrhundert sind Bündnisse mit anderen norddeutschen Städten belegt, die der Förderung des Handels und einer größeren Unabhängigkeit vom Landesherrn dienen sollten. 1476 trat Hannover einem Städtebund [Druckseite XII] bei, dem auch Einbeck, Göttingen, Goslar, Halberstadt, Lüneburg, Magdeburg, Stendal und Uelzen angehörten. Hannover gehörte nicht zu den Hansestädten, beteiligte sich aber zusammen mit anderen Städten an der Beschickung von Hansetagen und sandte zur Vertretung seiner Interessen hin und wieder auch eigene Delegierte. Da die Stadt ihre wirtschaftliche Blüte der Funktion als Warenumschlagplatz verdankte, war sie dringend darauf angewiesen, durch Einbindung in das Hansische Wirtschaftssystem Handelsprivilegien zu bekommen. Die von den hannoverschen Kaufleuten betriebenen Geschäfte hielten sich jedoch immer in vergleichsweise bescheidenem Rahmen. Den Typ des Hansekaufmanns mit großem Unternehmen und zahlreichen internationalen Verbindungen gab es hier nicht. Hannover kam als Handelsplatz überregional gesehen nur eine bescheidene Rolle zu. Aber der in den großen Hansestädten gepflegte Lebensstil fand auch hier seinen Niederschlag. Die Kaufmannsfamilien der Stadt orientierten sich an Städten wie Hamburg, Lüneburg und Lübeck und errichteten – wenn auch in bescheidenerem Maß – seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts repräsentative Steinbauten mit abgetreppten Giebeln wie das der Familie Volger gehörende Haus Schmiedestr.48 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts oder das Haus Schmiedestr.14 von 1474 (Nr.28), das die Familie von Limburg erbauen ließ.

Kirchlich gehörte Hannover zum Bistum Minden. Die Diözesangrenze zum Bistum Hildesheim verlief direkt vor dem Ägidientor. Dies hatte zur Folge, daß die im 14. Jahrhundert vor dem Ägidientor errichtete Marienkapelle der Diözese Hildesheim unterstellt war. K i r c h e n g e b ä u d e sind in Hannover schon vor dem Brand von 1189 nachzuweisen. Als älteste Kirche ist die zentral gelegene Marktkirche St.Georgii anzusehen, die in den Urkunden erstmals 1238 Erwähnung findet.4) Grabungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben Reste eines romanischen Vorgängerbaues zutage gebracht, der auf die 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert wird. Die erhaltenen Fundamente lassen auf einen einschiffigen Bau mit einem im Grundriß querrechteckigen Turm schließen. Eine erste Erweiterung der Kirche wird für die Mitte des 12. Jahrhunderts angenommen. Aufgrund zweier ergrabener Brunnen neben der Kirche geht Plath5) davon aus, daß mit diesen der erhöhte Wasserbedarf eines Marktes gedeckt wurde, der somit bereits im 12. Jahrhundert neben der Kirche bestanden hätte. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstand im Südosten der Stadt der Vorgängerbau der Ägidienkirche, eine Pfeilerbasilika, in der Spitze zwischen Leine- und Schiffgrabenniederung. Das Ägidienpatrozinium, das im norddeutschen Raum durch die Welfen Verbreitung fand, deutet auf Heinrich den Löwen als Initiator des Kirchenbaues hin.

Wieweit die beiden Kirchen vom Stadtbrand 1189 betroffen wurden, ist nicht bekannt. Die Grabungen nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben jedoch für die Ägidienkirche Brandspuren, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Brand von 1189 zurückgeführt werden können.5) Inschriften für die beiden Hauptkirchen der Stadt sind erst aus der Zeit überliefert, als im 14. Jahrhundert gotische Hallenkirchen anstelle der romanischen Bauten errichtet wurden. Eine Ausnahme könnte lediglich die vermutlich älteste für die Stadt Hannover überlieferte Inschrift (Nr.1) bilden, die sich auf einer Glocke der Ägidienkirche befand. Da die Inschrift jedoch kein Datum enthält, kann nicht geklärt werden, ob die Glocke tatsächlich vom Vorgängerbau der Ägidienkirche in die gotische Kirche übernommen wurde.

Die älteste überlieferte Grabplatte Hannovers stammt aus der Kirche des M i n o r i t e n k l o s t e r s (Nr.2). 1291 schenkte Bischof Siegfried von Hildesheim den Minoriten das Obereigentum über einen am Leineufer gelegenen Hausplatz, den diese bereits bewohnten. Bald darauf errichteten die Minoriten auf dem Grundstück eine dreischiffige Kirche, die 1310 erstmalig erwähnt wird.6) Die Niederlassung der Minoriten blieb die einzige Klostergründung in Hannover bis zur Reformation, da es spätestens seit dem 14. Jahrhundert zur Politik des Rates gehörte, Ordensniederlassungen innerhalb der Stadtgrenzen wie auch den Übergang städtischen Grundes in die Tote Hand zu verhindern. Nach der Auflösung des Minoritenklosters wurde 1587 auf dem Grundstück das Sodensche Kloster errichtet (vgl. Nr.159), das 1637 dem Bau des Leineschlosses weichen mußte. Die Minoritenkirche wurde in den Schloßbau einbezogen und zur Schloßkirche umgestaltet.

In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde das H o s p i t a l   S t . S p i r i t u s  zusammen mit einer Kapelle begründet. 1284 wurde die Kapelle zur Pfarrkirche, da die Marktkirche für die wachsende Zahl der Bevölkerung nicht groß genug war. Die Heilig-Geist-Kirche blieb jedoch nur bis zur Errichtung der 1333 eingeweihten Kreuzkirche Pfarrei und hatte danach lediglich noch die Funktion einer Hospitalkapelle. Inschriften, die mit ihr in Zusammenhang stünden, sind nicht überliefert.

Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstand vor dem Steintor das Leprosenhospital [Druckseite XIII] S t . N i k o l a i . Die dazugehörige Nikolaikapelle ist nach den Grabungsbefunden der Nachkriegszeit im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts errichtet worden.7) Den 1323 geweihten Hauptaltar dotierte Johannes von Stenhus, dessen – vermutlich aus der Nikolaikapelle stammende – Grabplatte aus dem Jahr 1332 erhalten ist (Nr.3). Für die Inschriftenüberlieferung ist vor allem der um die Nikolaikapelle angelegte Friedhof, der im Laufe der Jahrhunderte stetig erweitert wurde, von Bedeutung, weil etliche der dort befindlichen Grabdenkmäler in den Berichtszeitraum fallen.

Abgesehen von der Nikolaikapelle wurden in Hannover in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch drei weitere gotische Kirchenbauten errichtet, da die vorhandenen Kirchenräume zu klein geworden waren. In der regen Bautätigkeit dokumentiert sich die wirtschaftliche Blüte der Stadt im 14. Jahrhundert, die ein rasches Anwachsen der Bevölkerungszahl zur Folge hatte. Nach der vorsichtigen Schätzung von Jürgens8) belief sich die Einwohnerzahl Hannovers bis 1300 auf ca. 2500, bis 1400 auf ca. 4000 und 1530 auf ca. 6000 Menschen.

Die Einweihung der K r e u z k i r c h e im Norden der Stadt, auf die die Pfarrechte der Heilig-Geist-Kapelle übergingen, fand 1333 statt. Die Kreuzkirche, ein einschiffiger Bau mit eingezogenem Chor, ist die kleinste der drei Altstädter Hauptkirchen. Während ihre Erbauung inschriftlich nicht bezeugt wird, gibt es einige Inschriften, die im Zusammenhang späterer Baumaßnahmen entstanden sind (Nr.170, 296, 297). Bald nach der Vollendung der Kreuzkirche wurde mit der Errichtung der gotischen M a r k t k i r c h e begonnen. Die dreischiffige Hallenkirche mit dem monumentalen Turm sowie einer Hauptapsis und zwei kleinen Nebenapsiden ist die südlichst gelegene der großen norddeutschen Backsteinkirchen. Der Neubau erhielt nach den Hauptpatronen den Namen St.Jacobi et Georgii. Die Inschriften tragen im Fall der Marktkirche Wesentliches zur Baudatierung bei. Für das Jahr 1340 ist inschriftlich (Nr.4) die Stiftung von Chorfenstern durch die Familie von Limburg im später sogenannten „Limburgischen Chor“ belegt, d.h. zu diesem Zeitpunkt muß der Bau bereits fortgeschritten gewesen sein. Ein weiteres Eckdatum für die Errichtung der Marktkirche enthält die Inschrift Nr.6, in der das Jahr 1350 als Baujahr des Turmes angegeben ist. Auch der Baubeginn der gotischen Ä g i d i e n k i r c h e ist durch eine Inschrift (Nr.5) von 1347, die die Namen der Baumeister und das Datum überliefert, festzulegen. Der dreischiffige Hallenbau mit eingezogenem Chor wurde im Gegensatz zur Marktkirche aus Bruchsteinquadern errichtet.

Neben den genannten Kirchen gab es in Hannover noch die – schon 1645 abgerissene – Marienkapelle vor dem Ägidientor, die Neustädter Marien- und die St.Gallenkapelle. Die Neustädter Marienkapelle wurde 1382 erbaut und 1389 zur Pfarrkirche der Neustadt erhoben. Nach dem Bau der Neustädter St.Johanniskirche, auf die die Pfarrei überging, wurde die Marienkapelle 1670 in ein Schulhaus umgewandelt und 1859 abgebrochen. Die St.Gallenkapelle wurde 1446 auf dem St.Gallenhof an der Burgstraße errichtet. Sie war die Nachfolgerin der zusammen mit der Burg Lauenrode zerstörten Burgkapelle. Nach der Reformation verfiel das Gebäude und stürzte schließlich 1630 ein.

Die Differenzierung der städtischen Selbstverwaltung fand eine Entsprechung im Ausbau des R a t h a u s e s. Nach Plath entstand das erste Rathaus etwa zur Zeit der Stadtrechtsverleihung von 1241.8) Zu Beginn des 14. Jahrhunderts ist in den Quellen von einem neuen Rathaus die Rede, bei dem es sich um den ältesten Teil des auf dem Areal zwischen Marktstraße und Köbelingerstraße errichteten Altstädter Rathauses gehandelt haben wird. In den folgenden Jahrhunderten fanden am Rathaus zahlreiche Aus- und Umbauten statt, von denen einige auch inschriftlich belegt sind (Nr.25). Vor allem die im umlaufenden Fries zur Marktseite hin eingefügte Jahreszahl 1455 markiert den wichtigen Bauabschnitt der Errichtung des Marktflügels.

Das Rathaus und die gegenüberliegende Marktkirche bildeten das Zentrum der Stadt, auf das in nordwest/südöstlicher Richtung die Hauptstraßen der Altstadt zuliefen: die Knochenhauerstraße, die sich in der Köbelingerstraße fortsetzte, und die Schmiedestraße, die ihre Verlängerung in der Marktstraße fand. Beide Straßenzüge führten vom Steintor bis zum Ägidientor. Parallel dazu verlief im Westen die Leinstraße, im Osten die Osterstraße. Verwaltungstechnisch war die Altstadt in vier Stadtbezirke aufgeteilt, die nach der Leinstraße, der Köbelingerstraße, der Marktstraße und der Osterstraße benannt waren. Die städtebauliche Entwicklung in der Neustadt auf dem westlichen Leineufer setzte gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein. Das Stadtbild wurde seit dem 16. Jahrhundert, also zu der Zeit, für die zunehmend Inschriften an Bürgerhäusern überliefert werden, bestimmt durch die traufen- oder giebelständigen Fachwerkbauten, die in der Regel Inschriften trugen, und die – weniger zahlreichen – Ziegel- oder Steinbauten mit abgetreppten Giebeln.

[Druckseite XIV] Die wichtigsten Zugänge zur Stadt bildeten das Steintor, das Leintor und das Ägidientor, die im 16. und 17. Jahrhundert weiter ausgebaut wurden (Nr.56, 80, 176, 226). Die Befestigungsanlagen wurden verstärkt durch eine Reihe von Wachttürmen, von denen vor allem dem Döhrener Turm eine besondere Bedeutung in der Geschichte der Stadt Hannover zukam (vgl. Nr.29). Er war zweimal – 1486 und 1490 – Ziel eines Angriffs Herzog Heinrichs des Älteren auf die Stadt. Von gelegentlichen Übergriffen der Braunschweiger Herzöge abgesehen war das Verhältnis Hannovers zur Landesherrschaft im 14. und 15. Jahrhundert im allgemeinen jedoch ungetrübt. Durch Erbteilungen, Fehden und ständigen Geldmangel in seiner Machtausübung beschränkt nahm der jeweilige Landesherr auf die innere Verwaltung der Stadt keinen Einfluß und war durchweg um ein gutes Einvernehmen bemüht, zumal das wirtschaftlich florierende Hannover von den Herzögen immer wieder als Geldgeber in Anspruch genommen wurde.

Zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und dem Landesherrn kam es durch die Einführung der Reformation. Allerdings befand sich Herzog Erich I., was seine strikte Ablehnung der evangelischen Lehre betraf, im Einvernehmen mit dem Rat der Stadt, der sich der von den Bürgern 1532 verlangten Einführung der Reformation widersetzte. Wie anderswo wurde auch in Hannover die Forderung nach einer Reformation der Kirche mit wirtschaftlichen Forderungen verknüpft. Im Sommer 1532 nahm der erste lutherische Geistliche, Georg Scharnekau (Scarabäus) (Nr.111, 112), sein Amt an der Marktkirche auf. Als wichtigstes Datum für die Durchsetzung der Reformation in Hannover gilt der 26. Juni 1533. An diesem Tag versammelten sich die Bürger auf dem Marktplatz und legten den Schwur ab, die neue Lehre anzunehmen. Die Position des alten Rates wurde immer unhaltbarer; im September 1533 flohen die Ratsmitglieder in das katholische Hildesheim. Die darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen Erich I. und der Stadt, deren Nachteile Hannover vor allem durch die Sperrung der Straßen zu spüren bekam, konnten schließlich durch die Zahlung einer größeren Summe Geldes an den in Finanznöten befindlichen Landesherrn beigelegt werden. Im Rezeß vom 31. Juli 1533 sicherte Erich I. zu, die evangelische Religionsausübung in der Stadt zu tolerieren und die Sanktionen gegen Hannover aufzuheben. Nach dem Tod Erichs I. wurde 1542 unter der dem evangelischen Glauben zugeneigten Herzogin Elisabeth (vgl. Nr.104, 105, 110) die von Antonius Corvinus (vgl. Nr.95) erarbeitete evangelische Kirchenordnung für das Herzogtum Calenberg eingeführt.

Politische Folge der Reformation für die Stadt war die in der neuen Ratsverfassung vorgenommene Erhöhung der Zahl der ratsfähigen Gilden, wodurch die bislang dominierende Rolle der Kaufmannschaft innerhalb der Stadtverwaltung eingeschränkt wurde. Hierdurch erhielten zwar neue Familien die Chance zum Aufstieg innerhalb der Stadtverwaltung, der Bruch in der Stadtgeschichte, der durch die Vertreibung des alten Rates entstand, war jedoch nicht so gravierend, wie es zunächst den Anschein hatte. Dies wird auch daran deutlich, daß den Mitgliedern des alten Rates bald gestattet wurde, nach Hannover zurückzukehren.9) Daß die Durchführung der Reformation letztlich keine Entmachtung der führenden Familien zur Folge hatte, zeigt sich – abgesehen von der Besetzung der Ämter im 16. und 17. Jahrhundert – auch in den Inschriften. Die repräsentativen Grabdenkmäler werden in der 2. Hälfte des 16. und der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts bei den Hannoveraner Bildhauern von denjenigen Familien in Auftrag gegeben, die schon vor der Reformation die politische Macht in der Stadt innehatten: Zu nennen sind vor allem die Familien von Anderten, von Berkhusen, Blome, Idensen, Limburg und von Wintheim. Zugleich zeigen die Grabdenkmäler, deren Inschriften und Wappen die verstorbene Person häufig im Kontext ihrer familiären Beziehungen darstellen, die enge familiäre Verknüpfung der führenden Hannoverschen Familien.

Die Zeit nach der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg verlief für die Stadt weitgehend friedlich. Im Dreißigjährigen Krieg hatte Hannover unter den üblichen Kontributionszahlungen, Besatzungen und Überfällen nicht mehr zu leiden als andere Städte. Nach der Erstürmung der Festung Calenberg durch die Soldaten Tillys und der vorübergehenden Verlegung der landesherrlichen Residenz nach Hildesheim beschloß Herzog Georg 1636, seine Residenz nach Hannover zu verlegen. 1637 wurden erste bauliche Maßnahmen eingeleitet, die in der Folgezeit zur Errichtung des Leineschlosses führten. Durch die Wahl Hannovers zur Residenzstadt trat im Laufe der Zeit die städtische Freiheit hinter die Macht des Landesherrn zurück. Die Bürgerschaft verlor an Selbständigkeit und Hannover definiert sich seither durch seine Funktion als Landeshauptstadt.

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[Druckseite XV] Die Inschriften Hannovers spiegeln in vielfältiger Weise das Leben in dieser Stadt wider. Dem in die Stadt Eintretenden verkündeten Inschriften die Maximen, nach denen die Bürger hier leben sollten: An den Toren befanden sich neben Baudaten Tafeln, in deren Inschriften Hannover dem Schutz Gottes empfohlen und zugleich das Ideal der städtische Freiheit betont wurde (Nr.56, 80, 176, 226, s.a. Nr.89). Dabei wurde die Nachwelt besonders angesprochen und aufgefordert, dem Vorbild der Vorfahren zu folgen. Die zahlreichen Inschriften an den Bürgerhäusern der Stadt wiesen immer wieder auf die Notwendigkeit hin, ein gottgefälliges Leben zu führen und sich seinen Mitmenschen gegenüber anständig zu verhalten, beklagten aber auch den unter den Menschen verbreiteten Neid und Haß. Bürger- und Herrschertugenden sind der Inhalt eines umfangreichen Bild- und Inschriftenprogramms am Rathaus, das ausgehend von den Taten des Herakles Lehren für das Leben im allgemeinen und den Umgang mit der Macht aufstellte (Nr.25).

Inschriften, die auf konkrete Ereignisse der Stadtgeschichte Bezug nehmen, sind eher selten. Zu nennen sind hier vor allem die Inschriften zweier – noch im Original vorhandener – Tafeln der Marktkirche, die eine (Nr.224) mit chronikalischen Notizen und Preisangaben, die andere eine Gedenktafel (Nr.301) für die bei einem Überfall Tillyscher Soldaten auf die Stadt gefallenen Bürger; außerdem die auf den Turmbau der Marktkirche 1350 bezogene, nur noch kopial überlieferte Inschrift (Nr.6), die vom Ausbruch der Pest in der Stadt berichtet. Ob die in dieser Inschrift ebenfalls angesprochene Judenverfolgung 1350 in Hannover tatsächlich stattgefunden hat oder ihre Erwähnung nur zum typischen Formular von Pestinschriften gehört, läßt sich anhand der Quellen nicht entscheiden. Der sogenannte „Siebenmännerstein“ (Nr.29), der jahrhundertelang als Gedenkstein für ein stadtgeschichtliches Ereignis angesehen wurde und Anlaß zur Legendenbildung gab, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein Andachtsbild ohne konkreten historischen Bezug. Eher als Kuriosum ist das Bild der 1635 in der Leine gefangenen Störe aus dem Rathaus (Nr.313) zu nennen.

Die Einführung der Reformation in Hannover klingt in einigen Grabschriften an (vgl. u.a. Nr.74, 95, 110, 112), jedoch nur so weit, als es die Biographie des Verstorbenen betrifft. Ebenfalls auf die Person, wenn auch auf die der Landesherrin, Herzogin Elisabeth, bezogen sind die Inschriften einer Patene und einer Gedenktafel in der Marktkirche (Nr.104, 105), die möglicherweise von Elisabeth selbst verfaßt wurden. Während die Inschrift der Gedenktafel den Anteil Elisabeths an der Einführung der Reformation im Fürstentum Calenberg betont, wird in der Inschrift der Patene das persönliche Leid ausgedrückt, das für die Herzogin mit ihrem Engagement für den Protestantismus verbunden war. Einigen dieser Inschriften und den dazugehörigen Denkmälern kommt allerdings eine über die Person hinausgehende Bedeutung zu: Im Chor der Marktkirche befanden sich Epitaphien für die Herzogin Elisabeth (Nr.110), Urbanus Rhegius (Nr.74), Antonius Corvinus (Nr.95) und Georg Scharnekau, genannt Scarabäus (Nr.112), die alle maßgeblich an der Einführung der Reformation in Hannover beteiligt waren. Von diesen sind lediglich Scharnekau und Corvinus in Hannover beigesetzt, letzterer nicht in der Marktkirche sondern auf dem Nikolaifriedhof. Dies erweckt den Eindruck, als habe man hier an besonders hervorgehobener Stelle programmatisch alle Reformatoren versammeln wollen, um die Kraft der neuen Bewegung zu dokumentieren.

In bezug auf die Personengeschichte der Hannoverschen Bürger sind die – seit der Mitte des 16. Jahrhunderts im allgemeinen recht ausführlichen – Grabinschriften ergiebig. Sie bieten zum Teil detaillierte Lebensläufe der Verstorbenen, und es hat den Anschein, als ob die ältere Geschichtsschreibung10) ihre biographischen Angaben zu großen Teilen aus den Grabinschriften entnommen hat, da die in den älteren stadtgeschichtlichen Werken enthaltenen Informationen personengeschichtlicher Art selten über die der Grabinschriften hinausgehen. Der in den Grabinschriften erfaßte Personenkreis ist relativ eng zu begrenzen: In erster Linie handelt es sich um Mitglieder der großen Hannoverschen Ratsfamilien, vor allem um Angehörige der Kaufmannschaft; hinzu kommen die Pastoren der drei Altstädter Kirchen und ihre Frauen, Hofbeamte sowie einige „Außenseiter“. Unter diesen ist vor allem der Hannoversche Bildhauer Jeremias Sutel zu nennen, dessen Grabschrift (Nr.299) die wichtigste Quelle für seinen gewaltsamen Tod ist.

Zitationshinweis:

DI 36, Stadt Hannover, Einleitung, 2. Die Hannoverschen Inschriften - Einordnung in die Stadtgeschichte (Sabine Wehking), in: inschriften.net,   urn:nbn:de:0238-di036g006e009.

  1. Dieses Kapitel gründet sich in erster Linie auf: Geschichte der Stadt Hannover, hg. v. Klaus Mlynek u. Waldemar Röhrbein. Bd.1, Von den Anfängen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1992. Daneben basiert es auf Einzeluntersuchungen, die vor allem in den Hannoverschen Geschichtsblättern erschienen sind, sowie auf den älteren Darstellungen von Otto Jürgens (Aus der Vergangenheit der Stadt Hannover. In: HG 31, 1928, S.1–246.), R. Hartmann (Geschichte der Residenzstadt Hannover von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart, Hannover 1880.) und Arnold Nöldeke (Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover I, Regierungsbezirk Hannover. Teil I: Denkmäler des alten Stadtgebietes, Hannover 1932.). »
  2. Zum folgenden vgl. Helmut Plath, Das Datum der 750-Jahr-Feier der Stadt Hannover und seine Probleme. In: HG NF 44, 1990, S.1–11. »
  3. Helmuth Plath, Die Frühgeschichte. In: Geschichte der Stadt Hannover, hg. v. Klaus Mlynek u. Waldemar Röhrbein. Bd.1, Von den Anfängen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1992, S.15–66, hier S.27. »
  4. HUB, Nr.10, S.8f.: 1238 wird ein Warmannus als Geistlicher an der Kirche Beati Georgii erwähnt. »
  5. Helmut Plath, Die Ausgrabungen in der Ägidienkirche zu Hannover. In: HG NF 6, 1953, S.1–86, hier S.55. »
  6. Helmut Plath, Zur Baugeschichte des Minoritenklosters an der Leinstraße in Hannover. In: HG NF 9, 1956, Sonderheft Leineschloß, S.1–18. »
  7. Helmut Plath, Zur Baugeschichte der Nicolaikapelle. In: HG NF 11, 1959, S.381–393. »
  8. Plath, Frühgeschichte, S.34. »
  9. Vgl. hierzu Siegfried Müller, Stadt, Kirche und Reformation – Das Beispiel der Landstadt Hannover. Hannover 1987. »
  10. Vgl. u.a. J.A. Strubberg (Kurtze Nachricht von denen Evangelischen Predigern, Hannover 1731) und die chronikalische Überlieferung. »