Die Inschriften der Stadt Hameln

4. Schriftformen

Das Hamelner Inschriftenmaterial ist aufgrund des verhältnismäßig großen Anteils von original überlieferten Inschriften der Zeit vor 1500 für schriftgeschichtliche Fragen nicht besonders ergiebig. An Majuskelschriften ist nur die Kapitalis in ihren unterschiedlichen Ausprägungen der frühhumanistischen und der Renaissance-Kapitalis breiter überliefert. Während die alte Kapitalis lediglich in einem Beispiel erhalten ist (Nr. 1), fehlt die gotische Majuskel. Bei den Minuskelinschriften dominiert die gotische Minuskel, die humanistische Minuskel bleibt auf ein Beispiel beschränkt. Reine Frakturschriften96) sind nur für wenige Inschriften verwendet worden, ihre typischen Formen mit den rüsselartigen Verlängerungen der Schäfte lassen sich erst nach 1650 feststellen.97) Im übrigen ist in Hameln ähnlich wie in Osnabrück zu beobachten, daß zwischen den einzelnen Minuskelinschriften keine klaren Grenzen zu ziehen sind.98) Die Zuordnung erfolgt daher jeweils nach den überwiegenden Merkmalen. Sie wird zusätzlich dadurch erschwert, daß bei den Hausinschriften die originalen Schriftzüge oft durch Renovierungsmaßnahmen überformt worden sind (z. B. Nr. 56).

4.1. Kapitalis

Die Kapitalis ist im vorliegenden Bestand in den zwei Formen der frühhumanistischen Kapitalis bzw. der Renaissancekapitalis vertreten. Der Begriff „frühhumanistische Kapitalis“ bezeichnet einen Schrifttyp, dessen Ursprünge in Italien liegen und der im Zusammenhang mit dem Frühhumanismus – wahrscheinlich vermittelt über die Konzilien von Konstanz (1414–18) und Basel (1431–49) – seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch in Deutschland übernommen wurde.99) Die Schrift ist charakterisiert durch schmale, oft eng gedrängte Buchstaben (vgl. Nr.65). Wesentliche Kennzeichen sind Ausbuchtungen am Mittelbalken des H, am Schrägbalken des N und am I, epsilonförmiges E¸ halboffenes D sowie das Auftreten des retrograden N. Im Unterschied zu diesem Schrifttyp ist die Renaissance-Kapitalis, für die auch der generelle Begriff „Kapitalis“ üblich ist, durch breitere Ausführung der Buchstaben und durch das Fehlen der für die frühhumanistische Kapitalis charakteristischen Zierformen gekennzeichnet.

Im Hamelner Bestand stammen die beiden frühesten Belege für die Kapitalis von der um 1500 entstandenen Figur des hl. Nikolaus (Nr. 30) und von einer Beischlagwange am Haus Fischpfortenstraße 20 aus dem Jahr 1550, deren Gestaltung – wie in Abschnitt 3.2.2. ausgeführt – das früheste Beispiel [Druckseite XXXIII] für den Einfluß der Weserrenaissance darstellt. 100) Die frühen Kapitalisinschriften, die kurz nach der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden, sind überwiegend in der Form der frühhumanistischen Kapitalis ausgeführt. Vereinzelt lassen sich dabei noch Relikte der gotischen Majuskel beobachten, wie z. B. das der unzialen Form ähnelnde M mit unten spitz zusammenlaufenden Hasten am Haus Bäckerstraße 21 (Nr. 59) sowie das unziale T in der Grabinschrift des Rudolf von Holle (Nr. 65). Überhaupt zeigen die vorliegenden Beispiele, daß die frühhumanistische Kapitalis offen für vielerlei zum Teil phantasievolle Buchstabengestaltung gewesen ist. Zu nennen sind hier beispielsweise die in Form eines Epsilon ausgeführten C (!) am Haus Bäckerstraße 16 sowie die nach Art eines gotischen G mit einem kurzen von rechts nach links verlaufenden Diagonalstrich gestalteten X an der Kurie Walthausen (Nr. 73) von 1568. Zahlreiche Ligaturen, die bis zu drei Buchstaben betreffen können, z. B. THR (Nr. 78), und in einem Fall auch Enklaven (Nr. 65) geben den einzelnen Inschriften dieses Schrifttyps eine jeweils individuelle charakteristische Prägung. Der Eindruck einer Zierschrift wird in einigen Fällen noch durch sorgfältig gestaltete Worttrenner (z. B. Nr. 67) unterstrichen. Die Renaissance-Kapitalis ist dagegen im Hamelner Bestand durch breite Ausführung der Buchstaben gekennzeichnet und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen beanspruchen die einzelnen Buchstaben in der Breite mehr Raum und zum anderen sind die Hasten und Bögen insbesondere bei den erhabenen Inschriften breiter gehauen als in der frühhumanistischen Kapitalis. Keilförmige Abschlüsse der Hasten verstärken oftmals noch den Eindruck einer breit angelegten Schrift (Nr. 79, 105, 123, 146 u.a.). Weitere Kennzeichen dieses Schrifttyps sind die fast runden O – nur in einem Fall (Nr. 107) liegt wirklich rundes O vor – und die oft schräg nach unten auslaufenden Hasten des M (Nr. 123).

Im Vergleich mit den bisher edierten Inschriftenmaterialien fällt auf, daß die Elemente der frühhumanistischen Kapitalis in Hameln nicht auf die frühen Kapitalisschriften aus der Zeit kurz nach 1500 beschränkt bleiben. Vielmehr treten die Zierelemente dieser Schriftform, wie Ausbuchtungen, epsilonförmiges E und retrograde N in fast manieristischer Ausführung neben den kapitalen Formen auch in den späteren Kapitalisinschriften auf. So enthält z. B. die Inschrift am Rattenfängerhaus trotz breit gestalteter Buchstaben noch ein H mit ausgebuchtetem Querbalken, und selbst das von 1640 stammende Epitaph des Erdwin Hermeling (Nr. 145) hat neben kapitalen noch epsilonförmige E und spitzovale O. Für ein so spätes Auftreten der typischen Elemente der frühhumanistischen Kapitalis bis zum Ende des Berichtszeitraums lassen sich in den bisher erschienenen Bänden weder aus den norddeutschen noch aus den süddeutschen Corpora Parallelen finden. Im Göttinger und im Osnabrücker Material sind nach 1570 keine Inschriften in frühhumanistischer Kapitalis anzutreffen.101) Im süddeutschen Raum wird dieser Schrifttyp nach 1500 nur noch selten verwendet.102) Es ist also zu fragen, worin der Grund für diese lange Tradition der frühhumanistischen Kapitalis in Hameln bestehen könnte. Zunächst einmal fällt auf, daß diese Schriftform in Hameln nicht den lateinischen Inschriften vorbehalten bleibt; selbst niederdeutsche Bibelzitate (Nr. 60, 67) können in Formen der frühhumanistischen Kapitalis ausgeführt sein. Weder besondere Inhalte noch die Sprache dürften also für die Wahl dieser Schrift entscheidend gewesen sein. Vielmehr muß man annehmen, daß der ornamentale Kontext, speziell die Einflüsse der Weserrenaissance auf die Gestaltung von Fassaden und Grabsteinen, die bis ins 17. Jahrhundert reichende Verwendung dieser Schriftelemente begünstigt haben. Dies muß vorerst Vermutung bleiben, da die Inschriften der typischen Weserrenaissancestädte wie Stadthagen, Lemgo, Rinteln und Minden, die Vergleichsmaterial bieten könnten, bisher nicht ediert worden sind.

4.2. Die Minuskelschriften

An Minuskelschriften kommen im vorliegenden Bestand die gotische Minuskel sowie Inschriften mit Einflüssen der humanistischen Minuskel und der Fraktur vor. Die gotische Minuskel ist seit 1372 in Hameln kopial bezeugt (Nr. 6), das älteste erhaltene Zeugnis für diese Schrift ist der Stifterstein (Nr. 11) aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Es folgen die Inschriften auf einem Kreuzstein aus der Zeit nach 1400 (Nr. 12) und eine in die Kirchenwand eingemeißelte Grabschrift [Druckseite XXXIV] (Nr. 20), die nach 1428 zu datieren ist. Bei diesen drei frühen Beispielen – wie übrigens in allen Hamelner Minuskelinschriften – stehen die Buchstaben, wie es der gotischen Minuskel eigentlich entspricht, zwischen vier gedachten Linien. Bei anderen frühen Minuskelschriften sind Ober- bzw. Unterlängen sehr häufig mit in ein imaginäres Zweilinienschema gepreßt. Im vorliegenden Bestand weisen die Minuskelbuchstaben deutliche Oberlängen auf, z. B. bei h und b. In der Inschrift des Stiftersteins ragt auch der obere Bogen des a über den für den Buchstaben vorgesehenen Raum hinaus. In der überwiegenden Zahl der Hamelner Minuskelschriften stehen die Buchstaben einzeln. Tendenzen zu einer Gitterschrift, in der die Buchstaben eng zusammenstehen, lassen sich nur bei der bereits genannten Inschrift des Kreuzsteins (Nr. 12) und bei dem von 1431 datierenden Epitaph des Johannes Collemann (Nr. 21) sowie in einer späteren Hausinschrift von 1555 beobachten. Um 1500 treten die ersten Hausinschriften in gotischer Minuskel auf (Nr. 29), das früheste Beispiel dieses Schrifttyps mit einer für die Analyse ausreichenden Buchstabenmenge ist die Inschrift am Haus Pferdemarkt 10/Ecke Emmernstraße (Nr. 34) von 1500. Die Versalien dieser Inschrift sind einem Frakturalphabet entnommen, sie weisen allerdings in deutlich geringerem Maße als in den von Kloos beschriebenen Beispielen103) die typischen rüsselartigen Verzierungen auf. Die gotischen Minuskelschriften aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts haben als Schmuck oft gegabelte Schäfte, deren Enden lang ausgezogen sind (Nr. 40). Für die Folgezeit lassen sich die Minuskelschriften des Hamelner Bestands nicht mehr eindeutig in die Kategorien gotische Minuskel, humanistische Minuskel und Fraktur trennen. So ist beispielsweise die lateinische Versinschrift auf dem Stein vom Neuen Tor von 1556 (Nr. 45) eine Mischung aus Elementen der gotischen (doppelstöckiges a) und der humanistischen Minuskel (gerundete Buchstabenformen). Weitere Beispiele für solche Mischschriften sind die – allerdings restaurierte – Inschrift am Haus Alte Marktstraße 16 (Nr. 56) und Hummenstraße 9 (Nr. 52). Hinsichtlich der geringen Verbreitung der Fraktur außerhalb von Versalien bestätigt sich am Hamelner Material die Beobachtung Werner Arnolds, daß die Fraktur nördlich der Mainlinie seltener in Inschriften verwendet worden ist als in Süddeutschland.104) Das nahezu völlige Fehlen dieses Schrifttyps unterstreicht hier noch einmal die außergewöhnliche Bevorzugung der Kapitalis in allen Hamelner Inschriftengruppen.

Zitationshinweis:

DI 28, Hameln, Einleitung, 4. Schriftformen (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di028g004e005.

  1. Vgl. die Fraktur-Definition bei Kloos, S. 143: Kennzeichen der Fraktur sind demnach „die auslaufenden, vielfach unter die Zeile herabgezogenen Unterlängen von f und langem s, das einstöckige a, mandelförmige Bildung des o und andere Rundbuchstaben.“ »
  2. Ein Beispiel für eine Frakturinschrift findet sich am Haus Wendenstr. 4. »
  3. Im Osnabrücker Material gibt es fließende Übergänge zwischen der humanistischen Minuskel und der Fraktur, vgl. DI XXVI (Osnabrück), S. XXVIIIf. »
  4. Grundsätzliche Ausführungen zu den Differenzierungen innerhalb der Kapitalisschriften gibt der auf der Fachtagung für Epigraphik in Graz 1988 gehaltene Vortrag von Renate Neumüllers-Klauser, der demnächst im Sammelband der Tagung, hg. von Walter Koch, in der Reihe der Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erscheint. »
  5. Die Kapitalisinschrift am 1504 gebauten Haus in der Thietorstr. 23 ist aller Wahrscheinlichkeit nach erst später angebracht worden. Die aus kapitalen Buchstaben bestehende Nameninschrift am Haus Alte Marktstr. 9 ist für eine schriftgeschichtliche Betrachtung außer acht zu lassen, da sie ohne erkennbaren Formwillen offenbar von ungeübter Hand ausgeführt wurde. »
  6. Der jüngste Beleg in Göttingen stammt von 1499, DI XIX (Göttingen), Nr. 57; der jüngste Beleg im Osnabrücker Material findet sich auf dem Rathausgestühl von 1554, vgl. DI XXVI (Osnabrück), Nr. 106»
  7. Vgl. DI V (München), S. XXIII; DI XII (Heidelberg), S. XX; in beiden Beständen finden sich keine Inschriften in frühhumanistischer Kapitalis nach 1500, lediglich in Nürnberg lassen sich noch einzelne Beispiele nach der Jahrhundertgrenze belegen, vgl. DI XIII (Nürnberg), S. XX. »
  8. Vgl. z. B. das im Tafelteil bei Kloos gegebene Bild des Grabtitels auf dem Epitaph des Veit Dietrich von 1549, Tafel VII, 1. »