Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Hinweis: Dieser Text enthält Abweichungen gegenüber der Druckfassung. Alle Von-Bis-Angaben bei Verweisen auf Katalognummern (z. B. Nr. 71–73) wurden aus Referenzierungsgründen zu kommaseparierten Listen aufgelöst.

Anhang 1: Die baugebundenen Inschriften des Stadtgottesackers

[Druckseite 471] Die Inschriften weisen eine große paläographische Einheitlichkeit auf. Gelegentliche Variationen wie z. B. eine Schrägstellung der Schäfte des M oder eine unterschiedliche Ansetzung und Ausschwingung der R-Cauden sind ebenso wie das an den Bögen 19 , 20, 21, 32 und 74 erscheinende zweistöckige, oben spitze Z eher der individuellen Handschrift des Steinmetzen als der allgemeinen Schriftentwicklung zuzuschreiben. Signifikante Veränderungen, wie z. B. den Übergang vom spitzen zum runden bzw. unzialen U, gibt es innerhalb der im Bearbeitungszeitraum entstandenen und original erhaltenen Inschriften erst im Jahr 1647 an Bogen 74 (Inschrift CB). Die Ausformung der dreieckigen Sporen und deren Fortentwicklung zu Serifen ist auch in Anbetracht des unterschiedlichen Erhaltungszustandes der Inschriften kaum beschreibbar.

Obwohl der Anbringungsort einiger unter A edierter, kopial überlieferter Inschriften nicht eindeutig bezeugt ist, kann angenommen werden, daß sie am Fries über dem Bogen standen, weil sie nach ihrem Inhalt (Bibelzitate und Bibeldichtung) und ihrer zumeist mehrteiligen Gliederung den original erhaltenen Friesinschriften gleichen. Allerdings ist der ursprüngliche Standort beschrifteter Werksteine des Frieses nur dann einigermaßen gesichert, wenn ihre Inschriften bei Olearius zitiert werden. Bei späteren Instandsetzungsarbeiten wurden Bögen neu aufgeführt – wie Inschriften des 17. Jh. vermuten lassen (32C, 67C, 69C, 77B) und Fotografien des 20. Jh. zeigen1) – sowie Teile ausgetauscht und zweitverwendet (z. B. an den Bögen 1, 36, 93). Stifter- und Besitzvermerke werden i. d. R. am Bogen selbst gestanden haben, so wie es bei den original erhaltenen und unter C edierten Inschriften zu sehen ist. Die mit C bezeichneten, nach 1590 datierten bzw. datierbaren Inschriften sind wahrscheinlich zum größten Teil Zweitbeschriftungen der Bögen.

Der bei weitem überwiegende Teil der Friesinschriften (A) zitiert die Heilige Schrift. Dem Anlaß gemäß wählten die Auftraggeber Bibelstellen aus, die ihre Heilserwartung ausdrückten.2) An den Friesen der ältesten Bögen 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, die sich in mehrfacher Hinsicht von den jüngeren unterscheiden,3) befinden sich 12 Bibelzitate und -paraphrasen, die Luther in der Vorrede seiner 1542 veröffentlichten Sammlung von Begräbnisliedern für Grabinschriften vorgeschlagen hatte.4) Das entspricht etwa 65% aller über diesen Bögen angebrachten Zitaten. Die Bibelzitate an den übrigen Bogenfriesen entsprechen nur zu etwa 35% der Empfehlung Luthers. Drei weitere Zitate der ersten Bögen sind in unmittelbarem textlichen Anschluß an die von Luther empfohlenen Stellen ausgesucht.5) Außerdem sind an den Bögen 14, 17 und 18 alle vier in der Vorrede zu den Begräbnisliedern abgedruckten Bibeldichtungen Luthers wiedergegeben.6) Bedenkt [Druckseite 472] man zudem, daß sich auf den ersten acht Bögen kein einziges Zitat wiederholt, dann spricht einiges dafür, daß hier eine sorgfältig abgestimmte Auswahl jener Bibelzitate und Bibeldichtungen vorliegt, die Luther als Grabinschriften vorschlug. Stellt man diesen Befund den Forschungen von Christine Steininger gegenüber, die die Auswahl der Bibelzitate auf Grabmälern untersuchte und keine konfessionellen Eigenarten erkannte,7) dann ergibt sich durch die Beschränkung auf die von Luther empfohlenen Inschriften eine deutliche konfessionelle Akzentuierung der ersten acht Bögen des Stadtgottesackers. Sie wird sich allerdings nur demjenigen erschlossen haben, der Luthers Schrift kannte.

Die Bibelzitate aller Bögen lassen sich großen Themengruppen zuordnen, die durch die beliebtesten, d. h. mindestens dreimal gewählten Bibelstellen bezeichnet werden.8) An den Anfang können die Propheten des Alten Testaments gesetzt werden, die die Auferstehung der Toten verheißen (Jes 26,19–20, Hes 37,12). Diese erfährt ihre konkreteste Beschreibung durch die Rede Hiobs (Hi 19,25–27), die zugleich die Gewißheit der allgemeinen Seligmachung ausdrückt. Voraussetzung dafür ist nach dem Neuen Testament der Sühnetod Jesu Christi, der allen Gläubigen die Rechtfertigung und das ewige Leben verspricht. Dafür werden bevorzugt das Evangelium des Johannes (Jh 3,16–18) und der Brief des Paulus an die Römer (Rö 4,25) zitiert. Daran schließen sich einzelne Zitate aus den Apostelbriefen wie Rö 5,6–9, 1 Pt 2,24 und 1 Jh 1,7, aber auch – prophetisch – Jes 53,5 an. Zu den am häufigsten zitierten Bibelstellen gehört Jh 11,25–26: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ Die deutliche Akzentsetzung auf die Rechtfertigung durch den Glauben an Jesu Christi Sühnetod wird durch weitere Zitate aus dem Johannesevangelium wie Jh 3,16–18, 5,24 und 6,40 und andere wie Rö 6,8–11 und 1 Th 4,13 bekräftigt. Diejenigen, die Gott „lieb haben“, erwartet die Krone der Gerechtigkeit (2 Ti 4,8) und die Krone des (ewigen) Lebens (Jak 1,12). Deshalb ist mit den Worten von Jh 3,18 und 5,24 mehrfach der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß der im Glauben Gestorbene nicht „ins Gericht“ muß, d. h. nicht von Verdammnis bedroht ist (vgl. Rö 8,1). Demgegenüber wird die Furcht vor dem Gottesurteil mit einzelnen alttestamentlichen Zitaten (Ps 143,2, Dan 12,2), aber auch mit Jh 5,27–28 selten zum Ausdruck gebracht, selbst wenn man die Anrufung bzw. Lobpreisung des barmherzigen Gottes in Ps 25,6–8 und 2 Ko 1,3–4 hinzurechnet. Die zweifache Zitierung von Jh 6,54– „Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben“ – kann auch als expliziter Hinweis auf die lutherische Abendmahlspraxis gelten und Bekenntnischarakter haben.

Das allein auf die Bibel ausgerichtete Konzept der Friesinschriften wird schon mit Bogen 19 verlassen. Bereits dort begegnet eine Kompilation biblischer, antiker und zeitgenössischer Zitate, wie sie bis Bogen 52 noch dreimal auftritt. Den Fries des Bogens 22 schmückt ein Totenlob, was allem Anschein nach ein Einzelfall blieb. Danach stehen (bzw. standen) an den bis Bogen 36, dem letzten Bogen der Nordseite, durchgängig beschrifteten Friesen nur noch Bibelzitate (ausgenommen Bogen 29). Auf der Ostseite werden die Friesinschriften lückenhafter und ab Bogen 53 inhaltlich abwechslungsreicher. Sollte es über Bogen 18 hinaus ein Konzept zur Friesbeschriftung gegeben haben, dann bestand das offensichtlich nur in der nachlässig gehandhabten Festlegung auf Bibelzitate. Auch die meisten nichtbiblischen Inschriften der Bogenfriese haben eine eindeutig eschatologische Ausrichtung. Die Inschriften A der Bögen 74, 75 und 94 fügen sich als Memento mori darin ein und mahnen: DISCE MORI, lerne zu sterben, wie es in der Inschrift 74AA heißt.9) Die im Bereich der Inschrift C vielfach und in mehreren Varianten anzutreffende Formel „zum Bekenntnis“ oder „zum Gedächtnis der Auferstehung der Toten“ darf als verkürzte Wiedergabe des Glaubensbekenntnisses verstanden werden, das als wesentlicher Teil zum „Guten Sterben“ dazugehörte und die ewige Seligkeit versprach.10) Die Formel wurde auch auf Grabmälern angebracht.

Für die jüngsten Bögen 80–86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93 94 und 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 sind durchgängig keine bauzeitlichen, d. h. bis 1590 entstandenen Friesinschriften überliefert. Allerdings ist nicht gesichert, daß die Friese tatsächlich unmittelbar vor oder nach der Errichtung der Bögen beschriftet wurden. Die Zitate zeitgenössischer Texte an den Friesen 19 und 75 sind allem Anschein nach Druckschriften entnommen, die erst Jahre nach Fertigstellung der Arkaden erschienen sind. Wenn diese Texte tatsächlich als Vorlagen der Inschriften an den sechs bzw. drei Jahre zuvor errichteten Bögen 19 bzw. 75 dienten, dann kann nicht generell davon ausgegangen werden, daß mit der baulichen Fertigstellung der Bögen die Ausführung der Friesinschriften einherging. Da viele Inschriften über die Stoßfugen im Fries hinweglaufen, könnten sie ohne weiteres an den stehenden Bögen eingehauen worden sein.

Die in Schriftgrad und -form ungleiche Ausführung der Friesinschriften der Bögen 50 und 59 sowie die nur halbseitige Beschriftung des Frieses von Bogen 60 deuten an, was Inschrift C des letzteren Bogens ausspricht: Schon seit Ende der 1560er Jahre konnten die Bogenkammern während oder bald nach der Erbauung geteilt, von verschiedenen Familien erworben und jede Bogenhälfte eigenständig mit einer Friesinschrift vollendet werden. Als ersten halbierten Bogen benennt Gottfried Olearius den 1566 aufgeführten Bogen 50. Die Praxis der anteiligen Bogennutzung wurde jedenfalls in der ersten Hälfte des [Druckseite 473] 17. Jh. beibehalten, wie entsprechende Inschriften belegen (vgl. Anhang 1, Nr. 47C, 73C, 91CA, 5CA und 5CB).

Die unregelmäßige Ausführung und das Fehlen von Friesinschriften verstärken den Eindruck, daß der gestalterische Anspruch ab Bogen 19 bzw. 38 bzw. 80 nachließ, so wie es an der Außenmauer des Stadtgottesackers bereits ab den Bogenkammern 15 bzw. 19 feststellbar ist.11) Aber auch innen war ab Bogen 15 insofern eine Reduzierung des Inschriftenprogramms sichtbar, als die über den Pfeilern befindlichen bauzeitlichen Inschriften B dann auf jeden zweiten Pfeiler beschränkt wurden und ab dem zwischen den Bögen 19 und 20 stehenden Pfeiler gänzlich wegfielen. Die dekorative Ausgestaltung der Bogenzwickel und die Auszeichnung der Bögen mit Wappen wurde aber allem Anschein nach bis zuletzt beibehalten.

Quellen

  1. Fotografie LDA, Nr. 15096 (13A, 13B, 13C, 14A, 14B).
  2. MBH Ms 319, 2, passim.
  3. Olearius 1674, passim.
  4. Dreyhaupt 2, 1750, S. 690 f. (22A).
  5. Dähne 1830, S. 83 (11D, 12D), 84 (13D); alle folgenden Inschriften nicht wortgetreu oder unvollständig wiedergegeben: 83 (12C), 84 (13C), 85 (14DA), 86 (16C, 17C), 87 (18C), 88 (19C), 93 f. (30C), 96 (41C, 42C, 43C), 98 (46C), 106 (65C), 109 (71C), 111 (74AA, 74AB, 74CA).
  6. Bummerstedt/Berger 1881, o. S. (10B, 11B, 12B, 13B, 14B, 15B, 17B, 19B, 78B, 90B), Taf. 18 (11E).
  7. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 424 (12C unvollständig), 425 (11D, 12D).
  8. Denkmäler 5, 1902, S. 4 (Jahreszahl am Torturm); ebd. 6, 1907, S. 3 (13A und 13C).
  9. Kohlmann 1906, S. 368 (89C), 375 (69C).
  10. Neuß 6, 1930, S. 20 (3C), 36 (5C, 6C, 9C), 56 (10C, 11E, 12C, 13C), 72 (14E, 15CA, 16C, 17C), 88 (18C, 19C); ebd. 7, 1931, S. 128 (23C, 24C, 25C, 26C), 152 (27C, 28C, 29C), 176 (30C, 31C), 196 (32C, 34C, 35C); die Inschriften zumeist nicht wortgetreu und unvollständig wiedergegeben.
  11. Runde 1933, S. 550 (11D, 12D, 13D, 14D).
  12. Tietz 2004, S. 14 (11D), 15 (12C und 12D), 16 (13B), 32 (17A).

Anmerkungen

  1. Siehe Tietz 2004, S. 39 (Abb.). »
  2. Vgl. Einleitung, S. XLI f»
  3. Zur Baugeschichte und architektonischen Gestalt des Stadtgottesackers s. auch Einleitung, S. XXVII f. »
  4. Vgl. Luther WA 35, S. 480–482. »
  5. Hi 19,27; Rö 14,7; 1 Th 14,13. »
  6. Vgl. Luther WA 35, S. 482 f. Zwei der Dichtungen erscheinen auch auf Grabmälern; siehe Nr. 232, 405, 509»
  7. Vgl. Steininger 2006, insbesondere S. 249. »
  8. Das sind in deutscher oder lateinischer Fassung Hi 19,25–27, Jes 26,19–20, Hes 37,12, Jh 3,16–18 und 11,25–26, Rö 4,25 und 14,7–8, sieben von 51 verschiedenen Bibelzitaten, die etwa 43% aller Belege stellen. Auch alle übrigen Bibelstellen werden im folgenden mit den für die deutsche Bibel empfohlenen Abkürzungen zitiert. »
  9. Vgl. Einleitung, S. XLII»
  10. Ebd., S. XLIII»
  11. Ebd., S. XXVII»