Die Inschriften der Stadt Greifswald

8. Werkstattgruppen der Grabplatten

Zahlreiche Inschriften auf Greifswalder Grabplatten weisen hinsichtlich der Schriftformen und der Ausführungstechnik so weit übereinstimmende ausführungstechnische Merkmale auf, dass von einer Herstellung in derselben Werkstatt auszugehen ist. Der Werkstattbegriff ist in diesem Zusammenhang allerdings konstruiert, da Namen von Steinmetzmeistern sich bisher nicht nachweisen lassen. Im Folgenden orientiert sich die Bezeichnung der Werkstattgruppen an den Personennamen in den jeweils ältesten oder in besonders repräsentativen Inschriften. Bei kleineren Gruppen werden die zugehörigen Inschriften vollständig aufgeführt. Die Inschriften der größeren Gruppen können im Reg. 10 unter dem Stichwort ‚Werkstattgruppen der Grabplatten‘ aufgefunden werden.

Eine kleine Gruppe von Inschriften in gotischer Minuskel lässt sich für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts um eine Grabplatte der Familie Letzenitz ausmachen (Letzenitz-Gruppe).87) Repräsentativ für eine Gruppe gleichartiger Minuskelinschriften vom Beginn des 15. Jahrhunderts ist die Grabplatte für den Priester Friedrich Buchow († 1415, Buchow-Gruppe).88)

Im Zusammenhang mit der Ausprägung der späten gotischen Minuskel und bald auch der Aufnahme von Frakturelementen erscheinen mehrere Gruppen vom Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Besonders bemerkenswert ist die Bokholt-Gruppe. Zu ihr gehören erhaben in vertiefter Zeile gearbeitete Inschriften auf mindestens 28 Grabplatten. Bei den meisten handelt es sich um stark abgetretene, kurze Eigentumsvermerke ohne Jahreszahl. Lediglich zwei, die für den Propst Lorenz Bokholt (Kat.-Nr. 209) und für einen Gregor (Kat.-Nr. 208A), sind überwiegend gut erhalten. Nur diese beiden tragen eine Jahreszahl (beide 1501). Die oben und unten gleichmäßig quadrangelförmigen, in der Senkrechten lang ausgezogenen, zur Zeilenmitte an einer waagerechten Linie ausgerichteten Schaftbrechungen verleihen diesen Inschriften einen ausgeprägt gitterartigen Charakter. Als Leitformen können e mit auf einen Zierstrich reduzierten, senkrechtem, unten eingerolltem Balken, der oben stets über den Bogen hinausragt, gelten; außerdem u, dessen Schaft- und Bogenenden oben teils gebrochen, teils auch nach außen abgeschrägt sind, was auch bei stark abgetretenen Inschriften die Gruppenzugehörigkeit gut erkennen lässt. Das a tritt doppelstöckig oder kastenförmig auf, d mit recht steilem oberem Bogenabschnitt. Die freien Oberlängen der Buchstaben sind nach oben keilförmig verbreitert und enden schräg. Die Oberlängen von d und b sind teils doppelt abgeknickt, wobei die Knickstellen sichtbar gemacht wurden. Die i-Punkte weisen Kreisform auf. Charakteristisch ist auch der A-Versal mit aufgesetzter, markant dreieckig ausgezogener Schwellung des linken Schafts und linksschrägem Mittelbalken.89)

In den gleichen Zeitraum wie die Bokholt-Gruppe gehören einige Inschriften in einer sehr schlanken gotischen Minuskel, die sich durch ihre paragrafzeichenförmigen Worttrenner und die rechtsbündige Ausrichtung der letzten Zeile deutlich von allen anderen Schriftausprägungen unterscheiden lassen. Die Inschrift für Hermann Schwichtenberg (Kat.-Nr. 133B, 1516) ist als einzige mit einer Jahreszahl versehen. Zur Schwichtenberg-Gruppe gehören Inschriften auf mindestens sechs weiteren Grabplatten. Aufgrund prosopografischer Erwägungen fallen alle in die Zeit vom Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts.90)

Aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammt auch eine weitere, nur wenige Exemplare umfassende Gruppe von Inschriften in einer erhabenen, ebenfalls sehr schlanken gotischen Minuskel, am besten erhalten auf den Grabplatten für Joachim Engelbrecht und die Brüder Vargatz (Engelbrecht/Vargatz-Gruppe).91) Die quadrangelförmigen Schaftenden sind in [Druckseite 47] der Senkrechten nicht so weit ausgezogen wie bei der Bokholt-Gruppe. Der Balken des e verläuft schräg zum Schaft und ist unten in einem weiten Bogen aufgerollt, desgleichen der Zierstrich an der Fahne des r. Markant ist auch das y mit senkrechtem linken Schaft, der unten sehr weit nach rechts eingerollt ist; a kommt doppelstöckig, auch kastenförmig, vor. Der untere Bogen des g erscheint als dicht an den oberen Buchstabenkörper herangezogener Balken. Die Schäfte des u sind oben teils beidseitig nach außen abgeschrägt. Die namengebenden Grabplatten weisen zudem in Form und Größe identische Tartschenschilde auf, die anscheinend nach derselben Schablone gearbeitet wurden und sich dadurch vom Schild auf der Bokholt-Platte (Kat.-Nr. 209, Abb. 95) unterscheiden. Die Tartschen der Engelbrecht/Vargatz-Gruppe sind auf weiteren Grabplatten zu sehen, auf denen die zugehörigen Inschriften aber getilgt wurden.92)

Bei der Vargatz/Völschow-Gruppe handelt es sich um Inschriften in einer dünnstrichig eingehauenen gotischen Minuskel, die in einigen Fällen erste Elemente der Fraktur wie einen gebogenen rechten oder geschwungenen linken Schaft bei v und w zeigen. Die Jahreszahlen der beiden Namen gebenden Inschriften zeigen außerdem die ältesten arabischen Ziffern im Greifswalder Inschriftenbestand.93) Neben ihnen lassen sich weitere neun Platten dieser Gruppe zuordnen, die in das zweite Viertel oder um die Mitte des 16. Jahrhunderts datiert werden kann.94)

Ebenfalls in der Mitte des 16. Jahrhunderts lässt sich eine Gruppe von fünf erhabenen Inschriften (Voss/Nürenberg-Gruppe) ausmachen, von denen zwei die späte Form der gotischen Minuskel,95) die anderen drei eine Mischschrift aus gotischer Minuskel und Fraktur aufweisen.96) Der Gruppenzusammenhang ergibt sich daraus, dass in allen Inschriften die Minuskelformen übereinstimmen. Die Inschriften der Voss/Nürenberg- und der Vargatz/Völschow-Gruppe zeigen den allmählichen Übergang von der gotischen Minuskel zur Fraktur.

Die nächstfolgende Gruppe erscheint nach einer größeren zeitlichen Lücke erst am Ende des 16. Jahrhunderts. Die erhaltenen Belege reichen von 1592 bis 1603. Dabei handelt es sich überwiegend um erhaben gearbeitete Kapitalisinschriften. Das höchste handwerkliche Niveau zeigt sich auf der leider nur fragmentarisch erhaltenen Grabplatte für Henning von Walsleben (Kat.-Nr. 91B, Walsleben-Gruppe). Dass die Kapitalis hier zusammen mit einer ebenfalls qualitätvollen Mischschrift aus gotischer Minuskel und Fraktur auftritt, gibt zu erkennen, dass diese Werkstatt beide Schriftarten beherrschte. Bemerkenswert ist, dass es sich zumeist um längere Grabinschriften handelt, darunter um diejenigen für den Generalsuperintendenten Jakob Runge sowie die Professoren Johannes Oesten und Balthasar Rhaw.97)

Eine umfangreiche Werkstattserie ist für die Zeit von 1600 bis 1629 zu beobachten (Engelbrecht/Kruse-Gruppe, Kat.-Nr. 62B, 290A, B). Sie erstreckt sich auf Inschriften in Kapitalis und Fraktur, auch in Kombination miteinander, jeweils in erhabener und eingehauener Ausführung. Ihr lassen sich Inschriften auf mindestens siebzig Grabplatten zuordnen, wovon etwa fünfzig datiert oder aufgrund prosopografischer Erwägungen annähernd datierbar sind. Typische Merkmale dieser Kapitalis sind eine tendenziell breite Ausführung der Buchstaben, besonders deutlich bei C, D, G und den fast kreisrunden O, Linksschrägen- und Bogenverstärkung sowie der Wechsel von Haar- und Schattenstrichen. Als Leitform kann das N mit verstärktem, oben und unten die seitlichen Schäfte verdeckendem Schrägschaft gelten. Typisch ist auch R mit stachelförmiger Cauda, M mit senkrechten Schäften und niedrigem Mittelteil. Beim A, das einen geraden Mittelbalken aufweist, wird der rechte, breitere Schaft spornartig über den linken [Druckseite 48] hinausgeführt. Die Fraktur dieser Gruppe unterscheidet sich von früheren und zeitgleichen Mischschriften aus gotischer Minuskel und Fraktur durch einstöckiges a und ein e, dessen Bogen breit abgeknickt und als Schwellzug ausgeführt ist. Diese Form des e kommt erstmals und ausschließlich bei der besagten Gruppe vor.

Von 1615 bis 1628 ist entweder innerhalb dieser oder als zusätzliche Gruppe von Kapitalisinschriften eine Schriftvariante zu beobachten, die ein R mit geschwungener Cauda aufweist und in der die Schrägschäfte des A oben spitz zusammentreffen (Schwarz-Gruppe, Kat.-Nr. 69C). Sie kommt auf mindestens 17 Platten vor. Abgesehen von einer Ausnahme (Kat.-Nr. 262) sind alle Inschriften eingehauen.

Sowohl für die Engelbrecht/Kruse- als auch die Schwarz-Gruppe ist ferner eine Variante des kapitalen A üblich, meistens in Anno mit senkrechtem rechten und geschwungenem, unten teilweise nach oben eingerolltem linken Schaft, das auch vor den Jahreszahlen etlicher Frakturinschriften aus derselben Zeit auftritt. Das zeitliche Ende dieses Werkstattkomplexes fällt mit dem weitgehenden Verschwinden der Fraktur und der erhabenen Kapitalis zusammen.

Die Engelbrecht/Kruse-Gruppe wird von einer neuen Gruppe abgelöst, der die wohlproportionierte Inschrift, welche Barthold Krakewitz seiner 1630 verstorbenen Ehefrau Margarete Jäger setzen ließ (Kat.-Nr. 369A), als Vorbild gedient haben könnte (Krakewitz-Gruppe). Allerdings erreicht keine weitere Inschrift deren Qualität, schon gar nicht diejenige, die nach dem Tod des Barthold Krakewitz 1642 auf derselben Platte hinzugefügt wurde. Typische Merkmale der Krakewitz-Gruppe sind trotz stark schwankender Sorgfalt in der Ausführung der an den Serifen der Schäfte (häufig nur lose) ansetzende Schrägschaft des N, der bis zur Buchstabenmitte reichende Mittelteil des M mit leicht nach oben gewölbten Schrägschäften, ein R mit gerader oder leicht eingebogener, mit deutlichem Abstand zum Schaft am Bogen ansetzender Cauda. Charakteristisch sind auch die oben offenen B-, D-, P- und R-Versalien.

Bei weniger sorgfältiger Ausführung sind die Buchstaben meist dünnstrichig, ohne auffällige Unterschiede in der Strichbreite und deutlich schlanker als bei der Engelbrecht/Kruse-Gruppe. Die senkrechten Schäfte des N verbinden sich dann spitz mit dem Schrägschaft. Bis 1650 finden sich Inschriften dieser Gruppe auf mehr als fünfzig Grabplatten, ferner auf zahlreichen weiteren bis zum Jahrhundertende. In der zweiten Jahrhunderthälfte sind noch mindestens drei weitere markante Werkstattgruppen zu beobachten. Da sie außerhalb des engeren Erfassungszeitraumes dieses Bandes liegen, können sie nicht berücksichtigt werden.

Zitationshinweis:

DI 77, Greifswald, Einleitung, 8. Werkstattgruppen der Grabplatten (Jürgen Herold, Christine Magin), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di077g014e009.

  1. Kat.-Nr. 38A sowie Kat.-Nr. 22A, 50A, 55A»
  2. Kat.-Nr. 107A, außerdem Kat.-Nr. 69B, 95A, 97A, 98A, 105A, 106A, vielleicht auch Kat.-Nr. 47A2»
  3. Eine teilweise identische Ausführung bis hin zu den Eckrosetten und dem Tartschenschild zeigen zahlreiche Grabplatten in Wismar, die bis in die 1460er Jahre zurückreichen. »
  4. Kat.-Nr. 103B, 118B, 121B, 200A, 218A, 224A. Wahrscheinlich kann eine weitere Grabplatte dieser Gruppe zugerechnet werden (Kat.-Nr. 206), deren Inschrift – mit paragrafzeichenförmigem Worttrenner – allerdings konturiert gehauen ist. »
  5. Kat.-Nr. 13B, 64B, außerdem Kat.-Nr. 93C, 169B»
  6. Kat.-Nr. 200 sowie zwei weitere Platten, die in diesem Band nicht erfasst sind, weil sich darauf keine Inschriften aus der Zeit bis 1650 erhalten haben. »
  7. Kat.-Nr. 75B (1537), 131B (1534). »
  8. Mit Frakturelementen: Kat.-Nr. 78B, 88B, 130C, 176C, 214B, 230A; ohne erkennbare Frakturelemente: Kat.-Nr. 133C, 181B, 231A»
  9. Kat.-Nr. 205B, 229A (1548). »
  10. Kat.-Nr. 49B, 169C, beide 1556; auch Kat.-Nr. 31C»
  11. Kat.-Nr. 263, 267, 190B, C, außerdem Kat.-Nr. 140B»