Die Inschriften der Stadt Greifswald

7. Schriftarten

Die Greifswalder Befunde lassen sich noch nicht zu anderen städtischen Inschriftenbeständen der Region in Beziehung setzen, da diese noch nicht bearbeitet sind.79) Wo möglich, wird stattdessen auf Verhältnisse in Niedersachsen hingewiesen, sofern diese sich summarisch charakterisieren lassen. Für Greifswald lassen sich paläografische Entwicklungslinien nur an den Grabplatten, die 80% aller Inschriftenträger ausmachen, aufzeigen. Dementsprechend bildet die Paläografie der Grabplatteninschriften den schriftgeschichtlichen Leitfaden und Bezugsrahmen für die Darstellung der Schriftarten auf den übrigen Inschriftenträgern.

Die inschriftliche Überlieferung in Greifswald setzt erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein. Daher kommt die romanische Majuskel im Bestand nicht vor, die älteste Schriftart ist die gotische Majuskel. Sie wurde in der Mitte des 14. Jahrhunderts durch die gotische Minuskel weitgehend abgelöst. Die gotische Minuskel ging kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts in eine schlankere Spätform über, die bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts beobachtet werden kann. Ab dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts etablierten sich (Misch-)Formen der Fraktur. Sie blieben bis ungefähr 1630 üblich. Ab etwa 1570 ist die Kapitalis nachzuweisen, die nach 1630 als beinahe einzige Schriftart bestehen blieb. Andere Schriften wie die frühhumanistische Kapitalis oder die humanistische Minuskel spielten kaum eine Rolle.

7.1. Gotische Majuskel

Die gotische Majuskel vereint kapitale und unziale bzw. runde Buchstabenformen bei einer sich im Laufe der Zeit verstärkenden Tendenz zu runden Formen. Charakteristisch für diese Schrift sind auch ausgeprägte keilförmige Verbreiterungen der Schaft- und Bogenenden sowie Bogenschwellungen. Die an Schaft-, Balken- und Bogenenden angesetzten Sporen werden besonders betont und können vor allem bei C und E zu einem durchgehenden Abschlussstrich zusammenwachsen.

Für Greifswald sind 41 Objekte mit Inschriften in gotischer Majuskel bekannt. Ein zusammenhängender Bestand von Belegen für diese Schriftart findet sich jedoch nur auf 32 Grabplatten. Der Erhaltungszustand der 26 im Original erhaltenen Inschriften ist in den meisten Fällen so schlecht, [Druckseite 40] dass vergleichende Detailbeobachtungen und Rückschlüsse auf Veränderungen dieser Schriftart innerhalb des Verbreitungszeitraumes nicht möglich sind. Die Anzahl der eingehauenen Majuskelinschriften mit 12 und die der erhabenen mit 14 hält sich in etwa die Waage. Die ältesten gotischen Majuskeln finden sich auf zwei Grabplatten vom Ende des 13. Jahrhunderts in der eingehauenen Ausführung (Kat.-Nr. 2, 3), ab 1300 auch in erhabenen Buchstaben. Der jüngste datierte Beleg in Stein trägt die Jahreszahl 1361. Auf dieser Grundlage wurde für nicht datierte Inschriften in gotischer Majuskel ein Datierungsrahmen vom Ende des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts angenommen, wenn keine anderen Datierungskriterien vorlagen. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts blieb die Majuskel auf Grabplatten lediglich für Versalien bei Inschriften, die sonst in gotischer Minuskel ausgeführt waren, in Gebrauch.

Noch weniger aussagekräftig ist die Belegmenge (9) und Qualität der nicht in Stein ausgeführten gotischen Majuskeln.80) Aus dem archäologischen Fundgut konnten zwei Glasbecher bzw. deren Fragmente geborgen werden (Kat.-Nr. 8, 34), die vor 1318 bzw. zwischen etwa 1250 und 1350 entstanden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um in Greifswald entstandene, sondern nachweislich um importierte Objekte. Die übrigen Beispiele für gravierte (4) und gemalte (1) gotische Majuskeln bestehen jeweils nur aus maximal fünf Buchstaben, die sich in einigen Fällen nicht einmal sicher identifizieren lassen. Sie befinden sich auf einem Ring (Kat.-Nr. 84), drei Kelchen und einer überfassten Wandmalerei (Kat.-Nr. 100). Dass die jüngsten Beispiele für diese Schriftform auf den Kelchen weit in die Verbreitungszeit der gotischen Minuskel hineinreichen (Kat.-Nr. 79, 128, 158), deckt sich mit der generellen Beobachtung, dass die gotische Majuskel auf Goldschmiedearbeiten weit länger in Gebrauch war als in anderen epigrafischen Kontexten.

7.2. Frühhumanistische Kapitalis und (Renaissance-)Kapitalis

Der Begriff ‚frühhumanistische Kapitalis‘ bezeichnet eine Mischschrift, die auf das Formenrepertoire verschiedener Großbuchstabenschriften zurückgreift. Neben kapitalen, runden und unzialen Formen stehen eckige Buchstaben (C, G und O), gelegentlich werden auch Minuskeln und Elemente aus byzantinisch-griechischen Schriften einbezogen sowie besondere Einzelformen kreiert. Ihre Bezeichnung erhielt diese Schriftart, weil sie wahrscheinlich durch gelehrte humanistische Kreise im Umfeld der Reformkonzilien von Konstanz und Basel in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum bekannt gemacht wurde. Zum Formenkanon dieser Schrift gehören: epsilonförmiges (zweibogiges) E, retrogrades (spiegelverkehrtes) N, M in der Form des byzantinischen M (dieses in Form eines kapitalen H mit an den Balken angehängtem Mittelschaft) oder als konisches M mit durchgebogenen Schäften und sehr kurzem, über der Buchstabenmitte endendem Mittelteil sowie offenes kapitales D. An Schmuckformen kommen Ausbuchtungen, Nodi und Halbnodi an Schäften, Balken und Schrägschäften vor.

In den bisher untersuchten niedersächsischen Beständen ist die frühhumanistische Kapitalis ungefähr zwischen 1480 und 1530 und vor allem in sakralen und liturgischen Funktionszusammenhängen nachzuweisen.81) Im Greifswalder Bestand finden sich kaum Belege für diese Schriftart. In Stein tritt sie nur auf der Grabplatte für den Abt von Eldena Lambert von Werle (1499) auf, und zwar auf Schriftbändern im Zusammenhang mit der figürlichen Darstellung des Verstorbenen, während der umlaufende Sterbevermerk in gotischer Minuskel ausgeführt wurde (Kat.-Nr. 153). Darüber hinaus enthält auch die Inschrift in Renaissance-Kapitalis auf der Grabplatte für Gregor Zabel und Anna W. aus dem letzten Drittel des 16. oder vom Beginn des 17. Jahrhunderts einzelne Elemente der frühhumanistischen Kapitalis (Kat.-Nr. 115B). Zwei Goldschmiedearbeiten des späten 15. und [Druckseite 41] der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts weisen Elemente der frühhumanistischen Kapitalis auf, etwa Kreuzestituli mit retrogradem N (Kat.-Nr. 216, 219). Ebenfalls nur einzelne Buchstaben, offenes unziales D und byzantinisches M, zeigen die Kleinen Universitätszepter (Kat.-Nr. 228).Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts – und somit etwas später als die Fraktur – etablierte sich auf Grabplatten auch die (Renaissance-)Kapitalis. Die Kapitalis ist zwar dem Ideal der antiken Monumental-Kapitalis verpflichtet, deren Buchstaben meist wie mit Lineal und Zirkel konstruiert sind und in der Regel Linksschrägenverstärkung, Unterschiede zwischen Haar- und Schattenstrichen, Bogenverstärkungen sowie ausgeprägte Serifen besitzen. Die neuzeitlichen Kapitalisschriften weisen jedoch nur in seltenen Fällen diese strengen Konstruktionsprinzipien der antiken Kapitalis auf, sie kommen vielmehr in vielfältigen Erscheinungsformen vor, etwa mit schmalen hohen Buchstaben oder als schrägliegende Schriften.

Für Greifswald ist als datierter Erstbeleg in Stein die erhaben gearbeitete Inschrift von 1570 für Joachim Schuhmacher d. Ä. und seine Ehefrau Christina Meier (Kat.-Nr. 141B) anzuführen. Aus dem Jahr darauf stammt die früheste eingehauene Kapitalisinschrift (Kat.-Nr. 241A). Die erhabene Kapitalis, die im 16. Jahrhundert häufig in Kombination mit einer eingehauenen Jahreszahl oder Datierung verwendet wurde, kam wie die Fraktur nach 1630 fast völlig außer Gebrauch, sodass seitdem die eingehauene Kapitalis zur beinahe alleinigen Schriftart auf Grabplatten wurde.82)

Außer auf Grabplatten lassen sich auf 30 weiteren Objekten Kapitalisinschriften nachweisen, die zwischen 1569 und der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden. Die Wächterglocke, gegossen 1569 von Johannes de Borch, stellt das älteste datierte Kapitalis-Beispiel in Greifswald dar (Kat.-Nr. 240). Dieses Entstehungsjahr kommt dem der ältesten datierten Kapitalisinschrift in Stein (1570) sehr nahe. Charakteristisch für die qualitätvolle Inschrift der Wächterglocke sind keilförmige, verlängerte (untere) Balken bei E und L. Fast noch ausgewogener und deutlicher am klassischen Ideal orientiert ist die Buchstabengestaltung auf dem 1579 gegossenen Epitaph für Valentin von Eickstedt (Kat.-Nr. 252A, B). Variationsfreudiger waren die Schöpfer der Marienkanzel, die 1587 entstand (Kat.-Nr. 256). Bei einer genaueren Betrachtung der geschnitzten, ligaturenreichen Inschriften fallen Unterschiede zwischen dem Schalldeckel und dem Kanzelkorb auf. Der Schalldeckel zeigt nicht nur generell schlankere Buchstaben, sondern auch ein M, das je nach Platzbedarf des vorausgehenden oder folgenden Buchstabens mit schräger linker und/oder rechter Haste ausgeführt ist. Dass hingegen M am Kanzelkorb nur mit geraden Schäften vorkommt, könnte darauf hindeuten, dass hier ein anderer Meister am Werk war.

Unter den Kapitalisinschriften des 17. Jahrhunderts sind drei weitere Glocken sowie einige Goldschmiedearbeiten erwähnenswert. Während die beiden Droyse-Glocken aus den Jahren 1614 und 1615 (Kat.-Nr. 311, 317) sauber gestaltete Inschriften tragen, fallen diejenigen der von Herzog Philipp Julius 1623 gestifteten Glocke des Heilig-Geist-Hospitals durch relativ unscharfe Konturen sowie eine unregelmäßige Spationierung und Ausrichtung auf (Kat.-Nr. 350). Als einzige gestickte Inschrift ist die des wenige Jahre älteren, von demselben Herzog 1619 gestifteten Rektormantels (Kat.-Nr. 336) zu nennen. In gravierter Form kommt die Kapitalis auf vier Zunftpokalen aus Zinn (Kat.-Nr. 377, 424, 438) bzw. aus Silber (Kat.-Nr. 275) sowie auf drei silbernen Vasa sacra (Kat.-Nr. 287, 309, 316) und einem Anhänger vor (Kat.-Nr. 399). Allgemein sind die Inschriften in Zinn weniger sorgfältig graviert als in Silber. Der silberne Pokal der Glaser (Kat.-Nr. 275, 1600) zeigt Bemühen um ornamentale Formen, darunter offenes kapitales D. Bogenförmige Zierstriche als Verlängerungen der Schrägschäfte vor allem bei A und V weist Kat.-Nr. 287 (1602) auf. Unterschiedliche Buchstabenformen der Oblatendosen in St. Marien von 1613 und 1615 (Kat.-Nr. 309, 316) zeigen, dass – trotz teilweise identischer Stifternamen – unterschiedliche Goldschmiede tätig waren. Leicht schrägliegende Kapitalis findet sich sowohl auf der älteren Oblatendose als auch auf einer Kanne der Schlachterzunft (Kat.-Nr. 424, 1647). [Druckseite 42] Die ältere Schlachterkanne ist dem Greifswalder Zinngießer Joachim Grünewald zuzuweisen (Kat.-Nr. 377, 1632). Einen Sonderfall in sprachgeschichtlicher Hinsicht stellt schließlich die hochdeutsche Inschrift auf dem Anhänger der Schützenkette dar (vgl. Kap. 6).

7.3. Gotische Minuskel

Die epigrafische gotische Minuskel entspricht im Idealfall der Textura (Textualis formata) der Buchschrift. Kennzeichen der gotischen Minuskel ist die Brechung von Schäften und Bögen. Die im Mittelband stehenden Schäfte (von i, m, n, u und v) werden an der Oberlinie des Mittelbandes und an der Grundlinie gebrochen. Bögen werden durch stumpfwinklige Brechung oder spitzwinkliges Abknicken in senkrechte und schräge Bestandteile umgeformt. Diese Umformung der Bögen und die Schaftbrechungen geben der Schrift einen gleichförmig gitterartigen Charakter.

In Niedersachsen ist die gotische Minuskel etwa seit der Mitte des 14. bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreitet, mit einzelnen Belegen bereits vor 1350. Die Frühformen weisen uneinheitlich ausgeführte obere und untere Schaftbrechungen sowie eigenwillige Bogenbrechungen auf. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts nimmt dort die Belegdichte für die gotische Minuskel ab.83)

In Greifswald wurde die gotische Majuskel auf Grabplatten kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts durch die gotische Minuskel abgelöst. Die älteste datierte Inschrift trägt die Jahreszahl 1356 (Kat.-Nr. 38A).84) Die Etablierung der gotischen Minuskel im Zeitraum kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts stimmt mit dem für den Landkreis Rügen erhobenen Befund überein.85) Dass die gotische Majuskel und die gotische Minuskel in Greifswald kurzzeitig nebeneinander verwendet wurden, zeigt eine Grabplatte mit umlaufenden Minuskeln und einer wenig später im Innenfeld an einer Langseite angebrachten Majuskelinschrift (Kat.-Nr. 31A, B, beide Inschriften ohne Jahreszahl).

Das Formenspektrum der frühen Minuskel zeigt insbesondere in der Anfangszeit allmähliche Veränderungen, die als Datierungskriterien herangezogen werden können. Charakteristisch für die ältesten Inschriften sind die noch nicht kanonisch gebrochenen, sondern stumpf auf der Grundlinie endenden Schäfte von m, n und i. Dieselben stumpfen Abschlüsse zeigen die oberen Schaftenden von u. Auch für v und w setzen sich Brechungen erst allmählich durch.

Die jüngsten, unten noch stumpf endenden m sind in einer Inschrift mit der Jahreszahl 1392 zu sehen (Kat.-Nr. 69A), hier mit entsprechenden n, die jedoch noch einmal zu Beginn des 15. Jahrhunderts (Kat.-Nr. 88A) auftreten. i kommt anfangs nur stumpf endend vor, ein gebrochenes als Einzelfall im Jahr 1377 (Kat.-Nr. 58A); danach erst wieder 1413 (Kat.-Nr. 104) und von da an regelmäßig. Das letzte stumpfe i stammt aus den Jahren nach 1427 (Kat.-Nr. 116A). Bei den ältesten Inschriften in gotischer Minuskel enden die u-Schäfte oben stumpf, und zwar sowohl nur rechts als auch rechts und links, wobei beide Varianten in derselben Inschrift auftreten können (Kat.-Nr. 59, 1378; Kat.-Nr. 107, 1415). Dass der rechte u-Schaft am oberen Ende nach innen abgeschrägt ist, erscheint zuerst in der Inschrift für Ludolf Dersekow (Kat.-Nr. 55B, nach 1413, weitere Belege aus den Jahren 1447, 1450, 1458). Ein u, bei dem beide Schäfte oben gebrochen sind, ist erstmals in einer Inschrift mit der Jahreszahl 1418 belegt (Kat.-Nr. 110A, dann wieder 1427, 1443, 1458, 1474). Der jüngste Nachweis für ein u, dessen beide Schäfte oben stumpf enden, stammt aus dem Jahr 1429 (Kat.-Nr. 93B). Unten stumpfes u tritt nur ausnahmsweise auf (Kat.-Nr. 76, 91).

Bei v und w der ältesten Inschriften verlaufen der linke und gegebenenfalls der Mittelschaft schräg, das obere Schaftende ist nicht gebrochen und reicht meist bis in den Oberlängenbereich hinein; ein [Druckseite 43] gut erhaltenes Beispiel ist Kat.-Nr. 38A von 1356. Schon recht bald macht sich eine Tendenz zur Aufrichtung dieser Schäfte hin zur Senkrechten bemerkbar, zunächst noch ohne diese zu erreichen (Kat.-Nr. 49A, 1368; Kat.-Nr. 59, 1378). Etwas später werden die Schaftenden gebrochen (Kat.-Nr. 63, 64A, beide 1388). Das erste genau zu datierende v mit eindeutig parallelen, oben gebrochenen Schäften zeigt eine Grabplatte von 1397 (Kat.-Nr. 71). Alle jüngeren Inschriften weisen nur noch diese gebrochene Form von v und w auf.

Das a der älteren gotischen Minuskel ist stets doppelstöckig. Bei e ist der Balken gerade und reicht nach links bis an den Bogen heran. Geschwungene oder unten eingerollte Balken treten zuerst auf der Grabplatte für Klaus Kogheler d. Ä. (Kat.-Nr. 103A, vor 1412) auf, und zwar zusammen mit geraden Balken, ferner in der Inschrift für Ludolf Dersekow (Kat.-Nr. 55B, nach 1413), sowie 1415, 1443, 1474 und schließlich regelmäßig in der Spätform.

Schaft-r kommt von Anfang an mit oder ohne senkrechten, kürzeren oder längeren Zierstrich vor. Der erste Beleg für einen schräg zum Schaft laufenden, unten eingerollten Zierstrich stammt aus dem Jahr 1397 (Kat.-Nr. 71). Das erste datierte Vorkommen des Bogen-r als Kurzschaft mit aufgesetztem Quadrangel weist die Inschrift für Johannes Nienkerken von 1450 auf (Kat.-Nr. 125B). Dieselbe Buchstabenform findet sich auch in einer Inschrift für Andreas Wichmann, der wohl kurz nach 1440 starb (Kat.-Nr. 126A), sodass für Greifswald von einem Aufkommen dieser Form des r um die Mitte des 15. Jahrhunderts auszugehen ist.

Eine zeitliche Entwicklung lassen auch die Oberlängen von b, h, l und k erkennen. In den ältesten Inschriften (Kat.-Nr. 41, 22, 52) enden diese leicht nach unten eingebuchtet, die seitlichen Enden der oberen Abschlüsse sind nach unten eingerollt. Diese Variante ist bis 1418 zu beobachten (Kat.-Nr. 21A). Ab dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zeigen sich auch keilförmig verbreiterte und abgeschrägte Oberlängen. Den frühesten Beleg stellt die nach 1413 entstandene Inschrift für Ludolf Dersekow dar (Kat.-Nr. 55B). In der Spätform der Minuskel sind die Oberlängen dieser Buchstaben ausschließlich in dieser Weise ausgeführt. Gespalten endende Oberlängen kommen auf nur einer Grabplatte vor (Kat.-Nr. 159A).

Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts geht die gotische Minuskel in eine Spätvariante über. Diese zeigt schlankere Proportionen, spitz ausgezogene, ineinander übergehende Schaftbrechungen, die den gitterartigen Gesamteindruck der Schrift weiter verstärken. In der älteren Form liegt das Verhältnis von Strichbreite und angrenzendem Zwischenraum zur Buchstabenhöhe über den gesamten Verwendungszeitraum konstant bei etwa 1:3, in der Spätform bei etwa 1:4.86) Die Spätform zeigt auch ein erweitertes Formenspektrum einzelner Buchstaben, wie kastenförmiges a als Sonderform des doppelstöckigen a, ferner u, dessen obere Schaftenden nach außen abgeschrägt sind, sowie ein e mit dünnstrichigem, senkrechtem Balken, der unten eingerollt und oben immer über den Bogen hinaus verlängert ist. Außerdem treten i-Punkte auf. Die Oberlängen ragen in der Regel weiter über den Mittellängenbereich hinaus.

Eine Grabplatte mit der Jahreszahl 1473 bildet den ersten datierten Beleg für diese jüngere Schriftvariante (Kat.-Nr. 146). Die Inschrift auf einer Grabplatte für Johannes Balke (Kat.-Nr. 149A) – schlanke Proportionen, u mit nach außen abgeschrägten oberen Schaftenden, kastenförmiges a –, die in die Mitte oder in das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts zu datieren ist, kann als nahezu gleichalter Beleg gelten. Dieser Datierungsansatz wird durch eine Übergangsschrift mit Elementen sowohl der älteren als auch der jüngeren Minuskel-Variante auf der Grabplatte für den Abt Hartwig von Eldena bekräftigt (Kat.-Nr. 124A, 1447). Den Proportionen nach ist sie der älteren, gedrungenen Form der gotischen Minuskel zuzurechnen. Die unteren Schaftbrechungen sind jedoch nach unten spitz ausgezogen, ihre Kanten leicht eingezogen. [Druckseite 44]

Die ältere Form der gotischen Minuskel begegnet ein letztes Mal auf der Grabplatte für Johannes Parleberg (Kat.-Nr. 151A, 1483). Der Übergang von der älteren zur jüngeren Form vollzog sich demnach zwischen der Mitte und dem Ende des 15. Jahrhunderts. Anscheinend aus derselben Werkstatt wie zwei Grabplatten mit Frakturinschriften stammen zwei späte Beispiele der gotischen Minuskel. Eine Inschrift wurde Mitte des 16. Jahrhunderts für Joachim Schwarz (Kat.-Nr. 205B), die andere 1548 für Anton Voss (Kat.-Nr. 229A) angefertigt. Letztere stellt den jüngsten datierten Beleg für diese Schriftart dar. Für die Greifswalder Grabplatten ist daher als paläografischer Datierungsrahmen für die frühe Form der gotischen Minuskel ein Zeitraum von der Mitte des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, für die Spätform von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts anzunehmen.

Der Greifswalder Bestand weist insgesamt 167 Grabplatten mit Inschriften in gotischer Minuskel auf, von denen inzwischen 25 gänzlich, drei partiell verloren sind. Darüber hinaus kommt diese Schriftart in Stein auch auf dem 1463 datierten Gedenkstein für Hinrich Rubenow (Kat.-Nr. 143) vor. Von den Minuskelinschriften der Grabplatten sind nur neun eingehauen, die übrigen erhaben gearbeitet. Zu den 167 reinen Minuskelinschriften kommen acht eingehauene aus dem zweiten Viertel oder der Mitte des 16. Jahrhunderts, die einige wenige Frakturmerkmale aufweisen, sowie 45 in einer Mischschrift aus gotischer Minuskel und Fraktur (siehe Kap. 7.4).

Außerhalb der Überlieferung in Stein lässt sich die gotische Minuskel an sechs gemalten, fünf gravierten und zwei gegossenen Objekten nachweisen. Aufgrund dieser geringen Zahl und wegen des schlechten Erhaltungszustands der meisten Inschriften können die für die Steinminuskel gemachten Detailbeobachtungen zur Schriftentwicklung an den übrigen Inschriftenträgern nicht nachvollzogen werden. Die gemalten Inschriften mit einem an sich aussagekräftigen Buchstabenbestand, unter ihnen die Rubenowtafel, zeigen deutliche Zeichen von teilweise entstellender Überformung oder sogar Neuanfertigung (Kat.-Nr. 100, 113, 142). Sie sind daher für paläografische Beobachtungen ebenso wenig geeignet wie die nur teilweise erhaltenen oder aus einzelnen Buchstaben(-fragmenten) bestehenden Wand- und Glasmalereien (Kat.-Nr. 67, 87, 235). Von vier Kelchen weisen drei lediglich den Christusnamen ihesus christus am Nodus in gotischer Minuskel auf (Kat.-Nr. 79A, 217C, 219B). Die an zweiter und dritter Stelle genannten Inschriften sind dabei in einer auf Goldschmiedearbeiten häufig verwendeten, besonders dekorativen Form dieser Schrift ausgeführt, die einen plastischen, dreidimensionalen Eindruck hervorruft, weil die gebrochenen Hasten und Bögen wie gefaltete Bänder gestaltet sind (daher die Bezeichnung ‚Bandminuskel‘), an den Quadrangeln und Schäften sitzen Schattenstrichelungen, die diesen Eindruck verstärken. Nur ein Kelch (Kat.-Nr. 128) wurde mit einer längeren, niederdeutschen Inschrift versehen, die jedoch aus schlichten Buchstaben ohne Schmuck- und Sonderformen besteht. Exzeptionell sind hingegen die Zierelemente sowie die ornamentalen Buchstabenformen und -kombinationen auf den Schriftbändern der Großen Universitätszepter, die 1456 von einem unbekannten Meister angefertigt wurden (Kat.-Nr. 137).

Der Greifswalder Bestand weist zwei Glocken aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf, die mit längeren lateinischen Inschriften in gotischer Minuskel versehen wurden (Kat.-Nr. 109, 123). Auch wenn die Buchstabenformen auf diesen von verschiedenen Meistern gegossenen Glocken durchaus vergleichbar sind, lassen sich doch bei genauerer Betrachtung auch Unterschiede feststellen. Auf der Professorenglocke in St. Nikolai (Kat.-Nr. 123, 1440) zeigt der Versal O Bogenschwellungen mit gerader Innenkontur. Die Buchstaben d, h und g weisen deutliche Ober- bzw. Unterlängen auf, die Proportionen dieser Inschrift aus der Monkehagen-Werkstatt sind im Ganzen betrachtet schlanker als die der einige Jahre älteren Betglocke in der Marienkirche (Kat.-Nr. 109, 1418). Die Buchstaben auf dieser Glocke, die sich dem Gießer Johannes Karl zuweisen lässt, sind sorgfältig gestaltet und bleiben auf den Mittellängenbereich beschränkt, d, f, h, k und l sind also ohne Ober-, g ohne Unterlänge ausgeführt. Der Zierstrich an der Fahne des r verläuft senkrecht nach unten. Auffällig sind ferner gebogene oder eingerollte Zierstriche (vgl. besonders am Ende des oberen Bogenabschnitts von c, aber auch bei s in rosa). Vielleicht können diese epigrafischen Charakteristika dazu dienen, zukünftig weitere Glocken den beiden Meistern bzw. Werkstätten zuzuordnen.

7.4. Fraktur und humanistische Minuskel

Die epigrafische Ausprägung der kanonischen Fraktur zeichnet sich durch Schwellzüge und Schwellschäfte sowie die spitzovale Form der geschlossenen Bögen aus. Die Schäfte von f und Schaft-s reichen unter die Grundlinie, die Oberlängen sind meist gespalten oder laufen in Zierlinien aus. Es kommt sowohl einstöckiges als auch doppelstöckiges a vor. In Greifswald sind Inschriften in dieser kanonischen Fraktur nicht belegt. Stattdessen kommen Mischschriften aus gotischer Minuskel und Fraktur vor. Sie werden je nach Schriftanteil als ‚gotische Minuskel mit Elementen der Fraktur‘, ‚Mischschrift aus gotischer Minuskel und Fraktur‘ sowie schließlich als ‚Fraktur mit Elementen der gotischen Minuskel‘ bezeichnet. Gemalte Frakturinschriften fehlen völlig.

Auf Grabplatten sind Charakteristika dieser Schriftart – abgesehen von den Frakturversalien auf dem Stein der Familie Stevelin mit einer Inschrift in gotischer Minuskel von 1520 (Kat.-Nr. 215A) – seit den 1530er Jahren zu beobachten. Dabei handelt es sich zunächst um eine Gruppe von acht eingehauenen Inschriften (siehe Kap. 8, Vargatz/Völschow-Gruppe), die nur wenige Frakturmerkmale wie runden, nach unten verlängerten h-Bogen und gebogenen rechten Schaft bei v aufweisen. Die Buchstaben sind auffällig dünnstrichig, Schwellschäfte und -bögen fehlen.

Eine Mischschrift aus gotischer Minuskel und Fraktur erscheint 1556 auf den Grabplatten für Balthasar Nürenberg (Kat.-Nr. 49B) und Nikolaus Berndt (Kat.-Nr. 169C): Schwellzüge bei Schaft-s und f, einstöckiges a (spätere Mischschriften verwenden jedoch wieder das doppelstöckige), spitzovale Form der rechten Bögen von b, d, h und o.

Fraktur, wenngleich noch mit Elementen der gotischen Minuskel durchsetzt, wurde erstmals von einer Werkstatt, die sich nach den datierbaren Inschriften von 1600 bis 1629 nachweisen lässt (siehe Kap. 8, Engelbrecht/Kruse-Gruppe), sowohl in eingehauener als auch erhabener Ausführung verwendet. Diese Frakturschrift unterscheidet sich von früheren und zeitgleichen Mischschriften aus gotischer Minuskel und Fraktur durch einstöckiges a und ein e, dessen Bogen breit abgeknickt und als Schwellzug ausgeführt ist. Dieses typische Fraktur-e kommt ausschließlich in dieser Werkstattgruppe vor. In diesen Inschriften ist der Frakturcharakter am deutlichsten ausgeprägt, wenngleich einzelne Buchstaben – i, n, m, t und r – der gotischen Minuskel verhaftet bleiben.

Nach 1630 treten Frakturformen nur noch ausnahmsweise und in einer dünnstrichigen Ausführung auf, die sich von der gotischen Minuskel mit Frakturelementen aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts nur durch den zusätzlichen Gebrauch von Frakturversalien unterscheidet. Nur zweimal sind Jahreszahlen erhalten, Kat.-Nr. 416A (1640, der Name in Fraktur, die restliche Inschrift in Kapitalis) und Kat.-Nr. 176D (1652). Erhabene Frakturinschriften kommen zuletzt im Jahr 1623 (Kat.-Nr. 75C) vor. Für die paläografische Datierung ist daher im Falle der Greifswalder Frakturformen überwiegend – wenn nicht andere Argumente vorliegen – von einer Entstehung in der zweiten Hälfte des 16. oder im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts auszugehen.

Die humanistische Minuskel entspricht der Antiqua der Buchschrift. Kennzeichen sind runde Bögen und Schäfte, die ohne Brechung enden; f, Schaft-s und h enden in der Regel auf der Grundlinie, d wird mit senkrechtem Schaft ausgeführt. In Greifswald ist diese Schriftart kaum belegt. Auf Grabplatten kommt sie nur einmal, zusammen mit Kapitalis, im Jahr 1616 vor (Kat.-Nr. 319). Das 1595 entstandene Epitaph für den Generalsuperintendenten Jakob Runge (Kat.-Nr. 266) weist die einzige erhaltene, längere Inschrift in humanistischer Minuskel (mit Kapitalis für inhaltlich besonders wichtige Passagen) auf. Nicht nur die Buchstaben sind ebenmäßig gestaltet, mit ae-Ligatur und einzelnen Diakritika sowie neulateinischen Ziffern, sondern auch die Anordnung der Inschrift auf der Schrifttafel in zwei Spalten, die linke rechtsbündig, die rechte zentriert, ist sorgfältig komponiert. Auch auf dem Rahmen des gemalten Epitaphs für Martin Bartke (1623) war ehemals eine Inschrift in humanistischer Minuskel mit einer Kapitaliszeile angebracht. Da die Buchstaben jedoch mittlerweile abgeblättert sind, ist nur noch ein Abdruck der Inschrift auf dem dunklen Holz zu sehen (Kat.-Nr. 333).

Zitationshinweis:

DI 77, Greifswald, Einleitung, 7. Schriftarten (Jürgen Herold, Christine Magin), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di077g014e009.

  1. Der einzige für die Region bisher untersuchte Inschriftenbestand ist DI 55 (Landkreis Rügen). Dabei handelt es sich nicht um ein städtisch-universitäres, sondern um ein ländlich-adelig geprägtes Inschriftencorpus; vgl. dazu Zdrenka, Verbindungen.  »
  2. Zwei Zierschnallen aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Kat.-Nr. 5, 6) werden hier nicht berücksichtigt, weil zum einen die Objekte nicht am Original bearbeitet werden konnten. Zum anderen könnte es sich bei diesen Stücken um serielle Produktion handeln, und schließlich ist der Buchstabenbestand zu gering. »
  3. Zur frühhumanistischen Kapitalis in Niedersachsen vgl. Wulf, Schriften, S. 3–6. »
  4. Nach 1630 gibt es nur zwei Grabplatten mit erhabener Kapitalis: Kat.-Nr. 181C, D (1671), 306C (1660). »
  5. Dazu genauer Wulf, Schriften, S. 9–15. »
  6. Pyl erwähnt zwar zwei Minuskelinschriften auf einer heute verlorenen Grabplatte, beide mit der Jahreszahl 1332 (Kat.-Nr. 80). Da Pyls Angaben nicht immer zuverlässig sind und der zeitliche Abstand zu den ältesten noch vorhandenen Originalen dieser Schriftart erheblich ist, muss davon ausgegangen werden, dass es sich entweder um einen Lesefehler bei den Jahreszahlen oder um später angebrachte Inschriften handelt. »
  7. Vgl. DI 55 (Landkreis Rügen), S. XXIX–XXXI. »
  8. Das Feststellen der Buchstabenproportionen wird dadurch erschwert, dass die meisten Inschriften stark abgetreten sind. Bei den erhabenen Inschriften führte dies im Lauf der Jahrhunderte zu einer Weitung, bei den eingehauenen zu einer Minderung der Strichbreite von Schäften und Bögen. Nur die Summe aus Strichbreite und Breite des nachfolgenden Zwischenraums bleibt, unabhängig vom Abnutzungsgrad, unverändert und kann ins Verhältnis zur Buchstabenhöhe gesetzt werden, die durch Abnutzung der Steinoberfläche kaum verändert wird. »