1. Vorwort, Vorbemerkung und Hinweise zur Benutzung

1.1 Vorwort

Die Sammlung und Bearbeitung der Inschriften des Reichsstifts Gandersheim und seiner Eigenklöster Brunshausen und Clus erfolgte in den Jahren 2009 bis 2011 mit großen zeitlichen Unterbrechungen. Aus dem dritten Gandersheimer Eigenkloster, St. Marien, liegt wahrscheinlich (vgl. Nr. 29) keine Inschriftenüberlieferung vor. Angeregt wurde die seit den Anfängen der Inschriftenerfassung in Niedersachsen immer wieder als Desiderat bezeichnete Sammlung der Gandersheimer Inschriften durch das von Frau Professor Dr. Hedwig Röckelein, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg August-Universität Göttingen, geleitete Projekt „Frauenstift Gandersheim“ und durch das „Portal zur Geschichte Bad Gandersheim“. Die Einbindung der Inschriftenbearbeitung in dieses mittlerweile abgeschlossene Forschungsprojekt hat sich im Rückblick als besonders fruchtbar erwiesen. Ohne die einzelnen Arbeiten des Forschungsprojekts, die sich aus vielen verschiedenen Perspektiven den Gandersheimer Quellen näherten, wäre der disparate und zudem schmale Bestand von 70 Inschriften nur mit einem unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand zu bearbeiten gewesen. Das gilt sowohl für die Ermittlung kopial überlieferter Inschriften wie auch für die Auffindung der Objekte selbst. Neben dem Forschungsprojekt boten auch die beiden dem Kanonissenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern gewidmeten, von Hans Goetting bearbeiteten zwei Bände der Reihe „Germania Sacra“ von 1973 und 1974 eine vorzügliche Grundlage für die Bearbeitung der Gandersheimer Inschriften. Sie erleichterten vor allem die Archivarbeit im Staatsarchiv Wolfenbüttel, die auf punktuelle Recherche beschränkt werden konnte. Nicht zuletzt wegen der unübersichtlichen Überlieferungslage war Gandersheim trotz beharrlicher Mahnung Hans Goettings (gest. 1994), langjähriges Mitglied der Göttinger Inschriftenkommission, immer wieder zurückgestellt worden.

Im Laufe der Arbeit habe ich von vielen Seiten Unterstützung erfahren, für die an dieser Stelle herzlich zu danken ist. Die drei zeitlich aufeinander folgenden Leiter des „Portals zur Geschichte Gandersheim“, Herr Dr. Martin Hoernes, Herr Dr. Thomas Labusiak und ganz besonders Herr Thorsten Henke M.A., haben mich immer wieder auf Neufunde aufmerksam gemacht, Fundumstände erklärt und Provenienzfragen mitbedacht. Die Teilnehmer eines Projekt-Workshops im Jahr 2009 haben vielfältige Hinweise zur Beurteilung einzelner Inschriften beigesteuert. Besonders wichtig waren dabei neben den Arbeiten von Hedwig Röckelein zu den Gandersheimer Heiligen die im Rahmen des Forschungsprojekts entstandenen und in der Reihe „Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern“ erschienenen Publikationen von Birgit Heilmann zum Gandersheimer Kirchenschatz in nachreformatorischer Zeit, von Jan Friedrich Richter zu den Gandersheimer Holzbildwerken des 13. bis 16. Jahrhunderts und von Christian Popp zu den Heiligen und Reliquien im Frauenstift Gandersheim. Herr Dr. Christian Popp, von der Forschungsstelle „Germania Sacra“ der Göttinger Akademie der Wissenschaften, hat meine Editionsarbeit mit vielen wertvollen Hinweisen unterstützt und mir immer wieder mit Rat und Tat – auch bei Aufnahmearbeiten – zur Seite gestanden.

In gedruckter Form werden die Gandersheimer Inschriften zu einem großen Teil in dem in Vorbereitung befindlichen, von Hedwig Röckelein herausgegebenen Sammelband der Tagung „Der Gandersheimer Schatz im Vergleich“ erscheinen. Die vollständige, nach den Richtlinien der Reihe „Die Deutschen Inschriften“ erarbeitete Druckfassung wird Teil der Inschriften des Landkreises Northeim sein, zu dem die Orte Bad Gandersheim, Brunshausen und Clus gehören. Bis zur Fertigstellung dieses Inschriftenbandes erscheint hier eine Interimsfassung auf der Plattform „Deutsche Inschriften Online“. Ich danke der Digitalen Akademie Mainz mit Torsten Schrade M.A., Max Grüntgens und Dominik Kasper für die sorgfältige Online-Bereitstellung der Daten.

Der ehemalige Vorsitzende der Göttinger Inschriftenkommission, Herr Professor Dr. Ulrich Schindel, hat die Bearbeitung der Gandersheimer Inschriften im Zusammenhang mit dem Projekt zum Frauenstift Gandersheim befürwortet und damit das Risiko einer Verschiebung des Projektplans der Arbeitsstelle mit der Bearbeiterin geteilt. Meine Kolleginnen in der Göttinger Inschriftenarbeitsstelle haben in bewährter alltäglicher Zusammenarbeit die Arbeit tatkräftig und engagiert unterstützt. Inga Finck M.A. hat die Aufnahmefahrten begleitet, einen großen Teil der Photos gemacht und sämtliche Lesungen geprüft. Julia Zech M.A. hat die Bilder für die Online-Publikation bearbeitet und mit Metadaten versehen. Ihr, Frau Dr. Katharina Mersch und Frau Mareike Brosenne und – wie immer – Frau Dr. Sabine Wehking danke ich für die geduldige Unterstützung in sämtlichen Phasen der Arbeit bis hin zu den Korrekturen. Der jetzige Vorsitzende der Göttinger Inschriftenkommission, Herr Professor Dr. Nikolaus Henkel, hat die Arbeit vor der Online-Publikation durchgesehen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Göttingen, im Mai 2011. Christine Wulf

1.2. Vorbemerkungen und Benutzungshinweise

Die vorliegende Edition hat die Inschriften des Kanonissenstifts Gandersheim und seiner Eigenkirchen Brunshausen und Clus zum Gegenstand. Aufgenommen wurden sowohl die erhaltenen als auch die nur noch in Abschriften oder Photographien überlieferten Texte. Der Erfassungszeitraum reicht von der Gründung des Stifts in Brunshausen im 9. Jahrhundert bis zum Jahr 1700. Für die genannten Standorte ist Vollständigkeit angestrebt, angesichts der diskontinuierlichen Überlieferung des Bestands ist aber nicht ausgeschlossen, daß nach Abschluß der Sammlung weitere Inschriften vor allem aus der kopialen Überlieferung bekannt werden.

Die Anordnung der Inschriften sowie die Einrichtung der einzelnen Artikel folgt den Richtlinien der Reihe „Die Deutschen Inschriften“. Dementsprechend werden nur diejenigen Schriftzeugnisse erfaßt, die ursprünglich auf dauerhaften Materialien angebracht und nicht mit einer Feder auf Papier oder Pergament (wie z. B. Reliquienschedulae) geschrieben worden sind. Die Inschriften sind chronologisch angeordnet. Für undatierte Inschriften wurde eine möglichst enge Eingrenzung ihres Entstehungszeitraums vorgenommen. Sie sind jeweils an das Ende des ermittelten Zeitraums gestellt. Konnte ein terminus post oder ante quem ermittelt werden, ist der Artikel vor bzw. nach der Inschrift, deren Datum am nächsten liegt, eingeordnet.

1.3 Der Aufbau der Katalogartikel

Die Katalogartikel sind untergliedert in Kopfzeile, Beschreibung, Wiedergabe des Inschriftentextes, Kommentar und Apparat.

Die  K o p f z e i l e  enthält die laufende Nummer, die Bezeichnung des Standortes und die Datierung(en) der Inschrift(en). Bei erhaltenen Inschriften ist der aktuelle, bei verlorenen der letzte nachweisbare Standort genannt.

Ein Kreuz neben der laufenden Nummer kennzeichnet Inschriften, deren Original verloren ist.
(†) Ein Kreuz in Klammern steht 1. wenn der Inschriftenträger zwar vorhanden, die Inschrift als Ganze jedoch nicht original überliefert ist, 2. wenn der Träger eines Inschriftenensembles verloren, aber ein Teil der Inschrift(en) im Original vorhanden ist oder 3. wenn ein erheblicher Teil der Inschriften eines erhaltenen Trägers nur kopial überliefert ist.
† ? Ein Kreuz mit Fragezeichen steht bei photographisch oder kopial überlieferten Inschriften, deren Original möglicherweise noch erhalten ist, aber nicht zugänglich war und folglich nicht nach Autopsie wiedergegeben werden kann.
1465? Ein Fragezeichen bezeichnet eine zweifelhafte Datierung.

Die  B e s c h r e i b u n g  enthält Angaben zur Ausführung des Inschriftenträgers und der Inschrift(en), zu ihren früheren Standorten und gegebenenfalls zu den Verlustumständen. Alle Richtungsangaben verstehen sich vom Blickpunkt des Betrachters aus, nur für die Wappenbeschreibungen wird entsprechend den Regeln der heraldischen Fachsprache umgekehrt verfahren. Mehrere Inschriften auf einem Inschriftenträger werden mit A, B, C etc. bezeichnet. Für original überlieferte Inschriften werden die Maße des Inschriftenträgers, die Buchstabenhöhe und die Schriftart angegeben. Bei kopial überlieferten Inschriften ist hier die für die Edition maßgebliche Quelle genannt. Entsprechendes gilt für photographisch oder zeichnerisch überlieferte Inschriften. Soweit aus der kopialen Überlieferung Maße und Schriftart bekannt sind, werden diese mit einem entsprechenden Verweis übernommen.

Die  I n s c h r i f t e n t e x t e  sind eingerückt. Sie werden fortlaufend wiedergegeben. Texte in gebundener Sprache sind versweise abgesetzt, auch wenn das Original die Inschrift fortlaufend wiedergibt. Für die Edition nach der kopialen Überlieferung gilt, daß die vom Kopisten gewählte Wiedergabe in Groß- oder Kleinbuchstaben beibehalten wird. Die Interpunktion der kopialen Überlieferung wird nicht übernommen.

[ ] Eckige Klammern markieren Textverlust bei einer original überlieferten Inschrift und schließen die Ergänzungen der Bearbeiterin ein.
[...] Punkte in eckigen Klammern bezeichnen Textverlust, der nicht ergänzt werden kann. Läßt sich die Länge des verlorenen Textes feststellen, markiert ein Punkt jeweils einen ausgefallenen Buchstaben.
[ - - - ] Läßt sich die Länge des verlorenen Textes nicht feststellen, stehen drei durch Spatien getrennte Striche.
( ) Runde Klammern schließen aufgelöste Abkürzungen ein. Bei der Auflösung der Abkürzungen ist AE- oder E-Schreibung je nach Usus der Inschrift eingesetzt, ebenso U und V. Wenn die Inschrift keinen Anhaltspunkt gibt, wird nach klassischem Gebrauch verfahren. Punkte auf der Grundlinie oder hochgestellte Punkte werden nach Abkürzungen nur dann beibehalten, wenn die Inschrift durchgehend mit Worttrennern versehen ist.
< > Spitze Klammern bezeichnen spätere Nachträge auf einem Inschriftenträger oder schließen für Nachträge freigelassene Stellen ein. In Einzelfällen weisen spitze Klammern auch die Textpassagen aus, die bei Restaurierungen ergänzt worden sind.
/ Ein Schrägstrich markiert das Zeilenende.
// Doppelte Schrägstriche markieren den Wechsel des Inschriftenfeldes.
_ Ein unter mehrere Buchstaben gesetzter Strich bezeichnet eine Ligatur von zwei oder mehreren Buchstaben.

Lateinischen Inschriften werden Übersetzungen beigegeben. Im Anschluß an die Übersetzung wird bei metrischen Inschriften das Versmaß und gegebenenfalls die Reimform genannt. Niederdeutsche Inschriften werden in einzelnen Fällen ebenfalls übersetzt.

Die W a p p e n z e i l e verzeichnet die im Zusammenhang mit den Inschriften überlieferten Wappen. Bei Ahnenproben gibt das Druckbild die Anordnung der Wappen wieder.

Der K o m m e n t a r t e i l enthält Erläuterungen zu verschiedenen mit der Inschrift oder dem Inschriftenträger zusammenhängenden Fragen. Sie können sich beispielsweise auf Besonderheiten der Schrift,1) der Sprache oder des Inhalts einer Inschrift beziehen, historische oder biographische Angaben enthalten oder der Erklärung ikonographischer Zusammenhänge dienen.

Der A p p a r a t besteht aus Buchstaben- und Ziffernanmerkungen sowie Nachweisen der kopialen Überlieferung und Publikationen der Inschriften.

Die B u c h s t a b e n a n m e r k u n g e n beziehen sich auf textkritische Probleme der Inschrift. Sie enthalten abweichende Lesarten der kopialen Überlieferung, soweit sie relevant sind, und weisen auf orthographische Besonderheiten oder fehlerhafte Stellen in der Inschrift hin.

Die Z i f f e r n a n m e r k u n g e n enthalten Erläuterungen und Literaturnachweise.

Die Q u e l l e n z e i l e am Schluß des Artikels stellt in chronologischer Folge die wichtigsten kopialen Überlieferungen und Abbildungen der Inschrift zusammen. Vollständigkeit ist hier nicht angestrebt. Ist die Inschrift lediglich abschriftlich, zeichnerisch oder photographisch überliefert, steht an erster Stelle die Quelle, aus der die Inschrift zitiert wird.

2. Historisch-chronologischer Überblick2)

840ff. Das Grafenpaar Liudolf und Oda, die ersten namentlich bekannten Angehörigen der aufstrebenden sächsischen Adelsfamilie der Liudolfinger/Ottonen, erwerben in Rom von Papst Sergius II. Reliquien der späteren Stiftspatrone Anastasius und Innocentius (Nr. 32).
852 Liudolf und Oda gründen einen Sanktimonialenkonvent an einer bereits bestehenden Kirche (Patrozinium: Johannes der Täufer und Stephanus) in Brunshausen, dessen erste Äbtissin Hathumod (852–874), die älteste Tochter des Stifterpaares, wird.
856 Baubeginn der Stiftskirche in Gandersheim.
881 Umzug des Konvents aus Brunshausen in die mittlerweile fertiggestellte Stiftskirche nach Gandersheim. Die Leichname des zuvor in Brunshausen bestatteten Stifters Liudolf und der ersten Äbtissin Hathumod werden in die neue Kirche mitgeführt. In Brunshausen, das sich zu einem Eigenkloster des Stifts entwickelt, wird in der Folgezeit ein Männerkonvent angesiedelt.
949–1001 Amtszeit der Äbtissin Gerberga II., Tochter des späteren Herzogs Heinrichs I. von Bayern, Nichte Kaiser Ottos I. und ältere Schwester Heinrichs des Zänkers. Sie erneuert die Stiftskirche und trägt erheblich zu deren Ausstattung bei (Nr. 6, 7).
987–1030 Gandersheimer Streit: Die 979 ins Stift gegebene Sophia, Tochter Kaiser Ottos II., verweigert die Einkleidung durch den Hildesheimer Bischof Osdag. Stattdessen sollte Bischof Willigis von Mainz diese Handlung vornehmen. Die Weigerung Sophias löste den „Gandersheimer Streit“ aus. Ermöglicht hat diesen Versuch, sich von der Jurisdiktionsgewalt des Hildesheimer Bischofs zu befreien, die Lage Gandersheims an der nicht eindeutig festgelegten Diözesangrenze zwischen Hildesheim und Mainz. Die Präzedenzstreitigkeiten werden 1030 zugunsten von Hildesheim entschieden.
1061–1096 Amtszeit der Äbtissin Adelheid II., Tochter Kaiser Heinrichs III. und der Agnes von Poitou. 1081 Zerstörung der Stiftskirche durch Brand, danach Wiederaufbau und Neuweihe.
1110–1120 Das 2 km nordwestlich vom Stift gegründete Gandersheimer Eigenkloster St. Maria und St. Georg in Clus wird mit Mönchen aus dem hirsauisch reformierten Corvey besetzt.
1124 Weihe der ersten Klosterkirche in Clus.
1134 Die Gandersheimer Äbtissin Liutgard II. (1130/31–1152) reformiert Clus nach cluniazensischem Vorbild. Der Konvent von Brunshausen wird dem Cluser Abt unterstellt.
1192–1205 Brunshausen wird in ein Benediktinerinnenkloster umgewandelt.
1208 Äbtissin Mechthild I. von Wohldenberg (1196–1223) erreicht die Exemtion des Stifts und damit die endgültige Loslösung von der Jurisdiktion der Hildesheimer Bischöfe.
1402 Mit Sophia III. von Braunschweig-Lüneburg (1402–1412) wird zum ersten Mal eine Angehörige des Welfenhauses in Gandersheim Äbtissin.
1428 Bei der Welfischen Landesteilung gelangt Gandersheim in den Herrschaftsbereich der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg.
1430ff. Reform des Klosters Clus.2) Der Cluser Abt Johann Dederoth (1430–1439) wird gleichzeitig Abt von Bursfelde. Im Zuge der Reform löst sich das Kloster vom Stift.
1446–1505 Die Reformäbte Gottfried (1446–1460) und Wedego (1460–1505) bringen das verarmte Kloster Clus zu neuer Blüte (Nr. 16, 17, 20, 38).
Anf. 16. Jh. Innerer Zerfall des Stifts, in dem sich beim Tod der Äbtissin Agnes im Jahr 1504 nur noch zwei Stiftsdamen befinden. Demgegenüber zählt das Kapitel der männlichen Stiftskleriker elf Mitglieder, die für die geistliche Versorgung des Stifts und die Verwaltung zuständig sind.3)
1542–1547 Die schmalkaldischen Verbündeten führen im Reichsstift Gandersheim, in Clus und in Brunshausen die Reformation ein. Da schon seit Beginn des 16. Jahrhunderts das geistliche Leben im Kanonissenkapitel nahezu erloschen ist, formiert sich kaum Widerstand gegen die Einführung der Reformation.4)
1543 Bildersturm in der Gandersheimer Stiftskirche, veranlaßt durch antiklerikale Tendenzen in der Stadt.5)
1550 Wiederherstellung der Stiftskirche nach dem Bildersturm und Neuweihe einzelner Altäre. Bis zum Tod Herzog Heinrichs d. J. bleibt die Stiftskirche katholisch.
1568 Einführung der Reformation im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel durch Herzog Julius gegen den Widerstand des Stifts Gandersheim und des Klosters Clus.
1572 Nach dem Tod der Domina von Brunshausen, Anna Stein, sukzessive Einführung der Reformation in Brunshausen durch den herzoglichen Kommissar Barward Mente (Nr. 37).
1547–1577 Amtszeit der katholischen Äbtissin Magdalena von Chlum (Nr. 36), die als zeitweise einzige residierende Kanonisse das Ende der geistlichen Frauengemeinschaft in Gandersheim manifestiert.6)
1576/1577 Die Gandersheimer Äbtissin Magdalena von Chlum (1547–1577) besetzt mit ihrem Gefolge das Kloster Clus, um ihre Rechte gegenüber dem Herzog zu verteidigen. Ihre Schwester Margareta folgt ihr als letzte katholische Äbtissin (1577–1589) im Amt (Nr. 36) und behauptet sich gegen zwei protestantische Gegenäbtissinnen.
1589 Das nunmehr vornehmlich protestantische Gandersheimer Kapitel wählt Anna Erica von Waldeck (1589–1611) zur ersten evangelischen Äbtissin (Nr. 43).
1593 Äbtissin Anna Erica von Waldeck schließt mit Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel den „Großen Vertrag“, über den Verbleib von Brunshausen und Clus beim herzoglichen Kammergut. Die Äbtissin behält das Recht, die vom Herzog ernannten Klosterbeamten zu bestätigen. Bei den Kanonikaten und Vikariaten kann die Äbtissin nur noch jede dritte Stelle allein vergeben, für alle übrigen hat der Herzog das Präsentationsrecht. Residieren sollen jeweils vier Kanoniker und vier Vikare.
1596 Nach dem Tod des letzten katholischen Abts in Clus, Heinrich Pumme (1572–1596), setzt Herzog Heinrich Julius in Clus einen protestantischen Verwalter ein.
1629–1631 Das Restitutionsedikt erlaubt es den Klöstern Clus und Brunshausen zur Bursfelder Lebensweise zurückzukehren. Die Mönche und Nonnen müssen die Klöster wegen der Kriegsgefahr jedoch bald wieder verlassen.
1655 Der evangelische Frauenkonvent von Brunshausen kann wieder in sein Kloster zurückkehren. In Clus wird ein Scheinkonvent eingerichtet.
1695–1707 Äbtissin Henriette Christine (1693–1712), Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel, erlangt die Verfügungsgewalt über die Klosterwirtschaft von Brunshausen und Clus zurück. Sie veräußert wichtige Objekte des mittelalterlichen Kirchenschatzes zur Finanzierung von Baumaßnahmen.7)
1713–1766 Unter Äbtissin Elisabeth Ernestine Antonie, Prinzessin zu Sachsen-Meiningen, erlebt das Stift Gandersheim mit Brunshausen als neuer Residenz zum letzten Mal eine kulturelle Blüte.
1793 Profanierung der baufälligen Kirche in Brunshausen.
1802 Das Stift verzichtet auf seine Reichsstandschaft und erkennt die Landeshoheit des Hauses Braunschweig-Wolfenbüttel an.
1810 Aufhebung des Stifts Gandersheim und seiner Eigenklöster.

3. BAUGESCHICHTLICHE UND SAKRALTOPOGRAPHISCHE EINORDNUNG DER INSCHRIFTENSTANDORTE

Die Stiftskirche St. Johannes Baptista, St. Anastasius und St. Innozenz in Bad Gandersheim, heute ev. Pfarrkirche.

Die Baugeschichte der Gandersheimer Stiftskirche wurde zunächst von Karl Steinacker (1910) aufgrund der Baubefunde erarbeitet und von Hans Goetting (1973) durch die archivalische und urkundliche Überlieferung ergänzt und diskutiert. Auf der Basis dieser Arbeiten veröffentlichte Uwe Lobbedey 2006 seine „Bemerkungen zur Baugeschichte der Stiftskirche in Gandersheim“. Wesentliche neue Erkenntnisse zur Sakraltopographie der Stiftskirche brachte die 2010 erschienene Monographie von Christian Popp zum Reliquienbesitz des Frauenstifts, inbesondere die dieser Arbeit beigegebene Edition des Gandersheimer Liber ordinarius „Registrum chori ecclesie maioris Gandersemensis“. Diese Arbeiten liegen den folgenden knappen Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der Kirche zugrunde.8)

Die Stiftskirche präsentiert sich heute als kreuzförmige Basilika mit vorgelagertem zweitürmigen Westbau. Das Langhaus besteht aus einem flachgedeckten Mittelschiff, das durch Arkaden mit Stützenwechsel von den beiden gewölbten Seitenschiffen getrennt wird. Langhaus und Arkaden dürften nach einem Brand und der Wiederherstellung der Kirche unter der Äbtissin Adelheid II. (1061–1096) begonnen worden sein.8) In diesen Bauzusammenhang ist auch die unterhalb der Vierung und des Chors gelegene Hallenkrypta zeitlich einzuordnen.

Die Seitenschiffe wurden im späten Mittelalter durch gotische Kapellenanbauten (Nr. 12, 15, 67) erweitert.9) Die älteste, Johannes dem Täufer geweihte Kapelle liegt im Osten des südlichen Seitenschiffs, nach Westen schließt sich die St. Bartholomäuskapelle an, die der Subdiakon Heinrich von Sebexen 1344 stiftete (Nr. 12). Wiederum in westlicher Richtung folgt die 1345 von dem Kanoniker Bertold vom Winkel gestiftete zweijochige Peter- und Paulskapelle.10) Am nördlichen Seitenschiff wurden zwei gotische Kapellen angebaut: im Westen die von Arnold von Roringen im Jahr 1452 gestiftete Antoniuskapelle (Nr. 15) und im Osten die Andreaskapelle.

Der östliche Teil der Kirche besteht aus einem Querhaus mit Vierung und zwei quadratischen Querhausarmen. Der Vierung schließt sich ein querrechteckiges Chorjoch mit halbrunder Apsis an. An die Querarme grenzen im Osten zwei Kapellen: Im Norden die als Chor der Kanonissen11) und als Grablege der Äbtissinnen dienende Marienkapelle (Nr. 10, 11, 19, 51 Grablege einer Kanonisse, 62) mit einem Marienaltar, für den im 16. Jahrhundert die Bezeichnung de brede steyn („Breitenstein“) üblich wurde. Gegenüber der Marienkapelle, südlich vom Chor, liegt die von außen zugängliche Stephanuskapelle mit dem Pfarraltar für die Stiftsfamilia; sie war der zentrale Ort für die Verehrung des Stifters Liudolf.12)

Der Westteil der Kirche besteht aus einem zweigeschossigen Querbau12);  und einer vorgelagerten Turmanlage, deren einer Turm bereits im Jahr 926 geweiht wurde. Der Westbau ist im Bereich des Untergeschosses zusammen mit dem Langhaus und der Krypta im Rahmen der Baumaßnahme unter Äbtissin Adelheid II. entstanden, der obere Teil des Westbaus folgte sukzessiv bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. Seine Vollendung erfolgte vielleicht im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen unter Äbtissin Adelheid IV. (1152–1184), in deren Regierungszeit nach dem dritten großen Brand die Stiftskirche 1168 neu geweiht und vermutlich in der Folgezeit mit Wand- und Glasmalereien ausgestattet wurde (Nr. 7, 8).

Das Obergeschoß des Westbaus besteht aus einem repräsentativen Mittelraum mit einer halbrunden Nische in der Westwand, seine Ost-, Nord- und Südwand sind mit durch Säulen unterteilten Öffnungen versehen. Die ursprüngliche Funktion dieses Raumes ist unbekannt. Seine heutige Bezeichnung „Fräuleinchor“ wurde erst im 18. Jahrhundert üblich. Der Kanonissenchor befand sich aber nicht hier, sondern – wie gesagt – auf der Nordseite in der Marienkapelle. Südlich und nördlich schließen sich an den repräsentativen Zentralraum des Westbaus zwei weniger exponierte Seitenräume an. Der südliche wird als „die Vision“ bezeichnet, weil Herzog Liudolf hier seine Vision gehabt haben soll, die ihn veranlaßte, das Stift von Brunshausen nach Gandersheim zu verlegen.13) Dieser Raum diente im 17. Jahrhundert als Archiv (Nr. 61), heute beherbergt er zusammen mit dem nördlichen Seitenraum einen Teil der Ausstellung „Portal zur Geschichte – Bad Gandersheim“.

Größere Veränderungen erfuhr der Baubestand der Stiftskirche zunächst mit der Einführung der Reformation: 1570 wurde der Lettner der Stiftskirche abgebrochen.14) Im 18. Jahrhundert wurde die Apsis erneuert. In den Jahren 1848 bis 1850 unterzog man das Innere der Kirche einer grundlegenden Umgestaltung. Im 20. Jahrhundert veränderten mehrere Restaurierungs- und Konservierungsmaßnahmen erneut das Innere der Kirche.15)

Von der mittelalterlichen Klosteranlage ist kaum etwas erhalten. Goetting zufolge befand sich der Kreuzhof mit den Gemeinschaftsbauten im 12. Jahrhundert im Norden der Stiftskirche.16) Zusammenhängende, auch durch Inschriften bezeugte Baunachrichten (Nr. 4346) sind lediglich für die Abtei überliefert: Die Abteigebäude brannten im Jahr 1597 vollständig ab und wurden auf Veranlassung der Äbtissin Anna Erica von Waldeck (1589–1611) durch den Baumeister Heinrich Ovekate wieder aufgebaut.17)

Die Klosterkirche St. Bonifatius in Brunshausen, heute Museum.

In Brunshausen hat sich ein im wesentlichen spätgotischer Kirchenbau erhalten, dem – wie die Grabungen in den 1960er Jahren erkennen ließen17) – vier verschiedene Bauphasen voraufgegangen waren: Bau I und II sind in der Gründungsphase des Stifts bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden.18) Diese beiden frühen Kirchenbauten entsprechen der bereits vor der Stiftsgründung in Brunshausen bestehenden Eigenkirche der Liudolfinger. Ihnen wurden Putzfragmente mit eingeritzten Inschriften zugewiesen (Nr. 1), die bei den genannten Grabungen im Fundamentschutt der jüngeren, romanischen Südapsis zutage kamen. Die beiden ersten Kirchenbauten wurden bereits bald nach der Mitte des 9. Jahrhunderts durch einen größeren Bau ersetzt, der über einen dreiräumigen Westbereich mit einer Empore verfügte (Bau III). Dieser um 850/60 anzusetzende Bau dürfte dem Konvent bis zur Übersiedlung nach Gandersheim im Jahr 881 als Kirche gedient haben. Es folgte ein vierter, wohl noch vor 1150 begonnener romanischer Bau, dessen Ostapsis an den Rand des Hügelsporns hinausgerückt wurde.

Wohl aufgrund dieser ungünstigen Lage stürzte um 1300 die Hauptapsis der Kirche ein. Aus diesem romanischen Bau konnten im Rahmen der genannten Grabung etwa 3000 Scherben der ehemaligen Verglasung geborgen werden (Nr. 9). Der noch weitgehend erhaltene Bau V reduzierte die Anlage auf das Mittelschiff, das südliche Seitenschiff und die daran angrenzenden Teile des Westbaus. Im späten Mittelalter entstanden der rechteckige Hauptchor und das querschifflose Mittelschiff.19) Heute ist in der Brunshausener Klosterkirche der eine Teil der musealen Präsentation des Portals zur Geschichte untergebracht.20)

St. Maria und Georg in Clus, heute ev. Pfarrkirche.

Die Klosterkirche St. Maria und Georg in Clus ist als dreischiffige, im Langhaus flachgedeckte Basilika mit Stützenwechsel, ehemals doppeltürmigem Westbau und gotischem Choranbau angelegt.20) Die romanischen Elemente gehören zur ersten Kirche des zwischen 1110 und 1120 gegründeten Klosters. Bis spätestens in die 1130er Jahre hinein wurden die Ostteile, der Chor und das Querhaus errichtet. An diese Partien wurden bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts das nahezu quadratische Langhaus und die westliche Turmfront angefügt.21)

Neben kleineren Veränderungen bildete die spätgotische Chorverlängerung von 1485 bis 1487 den einschneidendsten mittelalterlichen Eingriff in die Grundsubstanz der Kirche. Die Erweiterung des Chors war notwendig geworden, weil durch die konsequente Reformierung des Konvents – Clus war die Keimzelle der Bursfelder Reform – das Kloster wirtschaftlichen und personellen Aufschwung genommen hatte (Nr. 16, 17, 20, 22 und 23). Finanziert wurden die Baumaßnahmen unter anderem durch Zuschüsse aus den norddeutschen Hansestädten Bremen, Hamburg und vor allem Lübeck (Nr. 16). Die im Zuge der Reform seit 1446 von Grund auf neu errichteten Klostergebäude – Abtei, Bäckerei, Küche, Refektorium und Dormitorium21) – dienten nach der Aufhebung des Klosters den Gutsverwaltern als Wohnung22) Von den beiden Kirchtürmen ist nur noch der nördliche erhalten, der südliche wurde zwischen 1750 und 1825 abgetragen.

4. DIE ÜBERLIEFERUNG DER INSCHRIFTEN

Aus der Gandersheimer Stiftskirche und der zugehörigen Klosteranlage sind insgesamt 47 Inschriften überliefert, davon konnten 35 im Original bearbeitet werden, weitere 12 sind nurmehr kopial überliefert. Für Brunshausen ergibt sich ein Verhältnis von vier original erhaltenen zu zwei verlorenen Inschriften; in Clus sind von 16 Inschriften noch sechs erhalten. Angesichts der Bedeutung des Reichsstifts Gandersheim als hochrangige geistliche Institution im frühen und hohen Mittelalter ist dies ein spärlicher und höchst lückenhafter Bestand. Weder gibt es eine auch nur einigermaßen kontinuierliche Reihe von Grabinschriften für die Angehörigen des Stifts, noch lassen sich Stiftung und Aufbau des Kirchenschatzes anhand der Inschriften nachvollziehen.22) Auch die Baugeschichte der Kirchen und Klosteranlagen wird lediglich in Clus für den speziellen Zeitraum der Klosterreform unter Abt Wedego Rese (1460–1505) und für die Gandersheimer Konventsbauten unter Äbtissin Anna Erica (1589–1611) durch die inschriftliche Überlieferung erhellt.

Verantwortlich für diese lückenhafte Inschriftenüberlieferung sind vor allem der Bildersturm von 1543 und die Verkäufe von Stiftsgut im Jahr 1697, die Äbtissin Henriette Christine (1693–1712), Prinzessin zu Braunschweig-Wolfenbüttel, zur Finanzierung von Restaurierungs- und Umbauarbeiten an der Stiftskirche tätigte. Sie haben insbesondere den Stiftsschatz stark beeinträchtigt23) und folglich die Zahl der Inschriften in erheblichem Maße reduziert. Eine anderswo nicht selten anzutreffende, eigens mit dem Ziel der Bewahrung von Inschriften angelegte systematische kopiale Überlieferung, die diese Verluste ausgleichen könnte, fehlt für die Stiftskirche wie auch für die beiden Eigenklöster. Gleichwohl sind einzelne verlorengegangene, bisher unbekannte Inschriften in den frühneuzeitlichen Chroniken und im Kunstdenkmälerinventar von 1910 überliefert.

4.1. Handschriften

Johannes Letzner (1531–1613), 3. Buch der Braunschweigisch-Lüneburgischen und Göttingischen Chronik, darinnen die Klöster selbiger Fürsthentümer beschrieben, item die geistlichen Orden.
Das „3. Buch“ bietet die älteste und wichtigste Überlieferung von zwei heute verlorenen Gandersheimer Inschriften (Nr. 7 und Nr. 10). Zumindest die Grabinschrift für eine der beiden Äbtissinnen Berta (Nr. 10) dürfte von Letzner nach Autopsie wiedergegeben sein.
Benutzte Exemplare:
SUB Göttingen, 2° Cod. Ms. Hist. 248. 1263 Seiten (Ende 17. Jh.). Brunshausen S. 95ff., Clus S. 199ff.; Gandersheim S. 135ff. Soweit nicht anders vermerkt, liegt diese Handschrift der Edition zugrunde.
SUB Göttingen, 4° Cod. Ms. Hist. 249. 1466 Blätter in zwei Bänden, Foliierung alle 10 Blätter. (Anfang 18. Jh.). Bd. 1: Brunshausen fol. 200r ff.; Clus fol. 294r ff.; Gandersheim fol. 449v ff.

Rupius-Chronik = Kurze Geschichtliche Aufzeichnungen über die niedersächsischen Klöster, insbesondere über Kloster Gandersheim.
Exemplar: Hildesheim Dombibliothek, HS 534 (17. Jh.). Die Handschrift besteht aus zwei unabhängig voneinander foliierten Teilen. Der erste Teil enthält 149 gezählte Blätter, darin Aufzeichnungen u.a. zur Geschichte der Klöster Amelungsborn, Bardowick und Bursfelde. Der zweite Teil (162 gezählte Blätter) enthält die Gandersheim betreffenden Texte: fol. 27r–95r Chronik des Michael Rupius (ca. 1548–1606) Catalogus Illustrium Abbatissarum Gandersemensium: fol. 28r–32v Chronikalische Notizen zu Gandersheim, fol. 33v Äbtissinnenkatalog, fol. 34r Vita der ersten Äbtissin Hathumod, ab fol. 96r Nachträge zum Äbtissinnenkatalog: Vita der Äbtissin Dorothea Augusta (1611–1626); fol. 97r/v Zeichnungen und Notizen; fol. 98r–100v Vita der Äbtissin Catharina Elisabeth (1626–1649); fol. 101r–141r Vermischte historische Notizen zu Gandersheim; fol. 142r–152v Verschronik der Hrotswith von Gandersheim: Prohemium Carminis. Ecce mea supplex … Oddo qui coeptum perfecit opus memoratum. Incipit Text: Roswida Gandershemensis Abbatissa de Constructione coenobii Gandershemensis Ordo nunc rerum deposuit debitus horum …; fol. 153r–159v Chronicon Ecclesiae Hamelensis (Johannes de Polde), fol. 161 Historische Notizen.
Quellen: In die für die Inschriftenüberlieferung wichtige Chronik des Michael Rupius sind der Äbtissinnenkatalog des Gandersheimer Kanonikers Bartold Stein (1562–1572) eingegangen (vgl. fol. 33v) und Letzners „3. Buch“. Auf Letzner wird sowohl im laufenden Text verwiesen als auch in den Randbemerkungen, die abweichende Lesarten, insbesondere abweichende Todesdaten verzeichnen.

Brakebusch, Verzeichnis von 1892.
StA Wolfenbüttel, 50 Neu 3 Gand, Nr. 500: Verzeichnis von Altertümern der Stiftskirche S.S. Anastasius (!) et Innocentii zu Gandersheim im Auftrage [des] Herzoglichen Konsistoriums zu Braunschweig durch (gez.) Rektor Dr. F. Brakebusch Gandersheim im Spätherbst 1892.
Das handschriftliche Inventar Brakebuschs bietet die erste systematische Verzeichnung des Denkmäler-Altbestands der Gandersheimer Stiftskirche, in welchem die überlieferten Stücke auch Inventar-Nummern erhalten haben. Brakebusch gibt bei seinen Verzeichnungen auch die Inschriften der Objekte wieder, allerdings nur in zwei Fällen von heute nicht mehr erhaltenen Stücken (Nr. 57, 63).

4.2. Gedruckte Überlieferung

Johann Georg Leuckfeld, Antiquitates Gandersheimenses, Wolfenbüttel 1709.
Der Pastor und Klosterrat Johann Georg Leuckfeld (1668–1726) ordnete im Auftrag der Äbtissin Henriette Christine das Stiftsarchiv und verfasste unter Heranziehung der historischen Dokumente des Stifts in deutscher Sprache unter dem Titel ‚Antiquitates Gandersheimenses‘ eine Historische Beschreibung des Uhralten Kayserl. Freyen Weltlichen Reichs=Stiffts Gandersheim. Sie enthält unter anderem eine Beschreibung der Gandersheimer Stiftskirche und ihrer Ausstattung einschließlich der vorhandenen Reliquien und Ablässe, einen Äbtissinnenkatalog, in den einzelne Inschriften inseriert sind, sowie eine Beschreibung des Klosters Clus. Für seine Darstellung benutzte Leuckfeld – wie er im Vorwort ausführt – unter anderem ein Exemplar des ‚3. Buches der Braunschweigisch-Lüneburgischen Chronik‘ Letzners, die vor 1597 entstandene Chronik des Michael Rupius und auch die 1539 abgeschlossenen historischen Aufzeichnungen des Cluser Mönchs Henricus Bodo in der Auswahledition Meiboms.24) Wiedergegeben sind die Inschriften zumeist mit Angaben zu ihrer Ausführung und – wie die einleitenden Ausführungen Leuckfelds nahelegen – nach Autopsie25), freilich ohne jeden Anspruch auf Textgenauigkeit, wie der Vergleich mit der teilweise erhaltenen Grabinschrift für die Pröpstin Elisabeth von Dorstadt (Nr. 19) zeigt. Leuckfelds Aufzeichnungen bieten insbesondere für die verlorenen Inschriften des Klosters Clus die wichtigste Editionsgrundlage.

Johann Christoph Harenberg, Historia ecclesiae Gandershemensis cathedralis ac collegiatae diplomatica, Hannover 1734.
Der evangelische Theologe und Historiker Johann Christoph Harenberg (1696–1774) hatte seit 1720 das Amt des Rektors der Gandersheimer Stiftsschule inne und widmete sich in diesem Amt auch intensiv der archivalischen Überlieferung der Gandersheimer Geschichtsquellen. Für die Textkonstituierung der Inschriften spielt seine in lateinischer Sprache verfaßte „Historia ecclesiae“ nur eine geringe Rolle, für die Kommentare hingegen liefern seine detailreichen Darstellungen wertvolle Informationen (Nr. 50, 62 u. ö.).

Karl Steinacker, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Gandersheim, Wolfenbüttel 1910.
Der von dem Kunsthistoriker Karl Steinacker (1872–1944) bearbeitete fünfte Band der Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Braunschweig bietet die umfangreichste und zuverlässigste Grundlage für die Edition der heute nicht mehr erhaltenen Gandersheimer Inschriften. Steinacker gibt von den hier behandelten Inschriften etwas mehr als die Hälfte komplett oder teilweise wieder. Gelegentlich berücksichtigt er auch verlorene Inschriften, die er meist nach Leuckfeld zitiert.26)

5. INSCHRIFTEN UND INSCHRIFTENTRÄGER

5.1. Grabinschriften

Der vorliegende Bestand enthält neben einzelnen Kleinfragmenten nur fünfzehn komplette Grabinschriften aus Brunshausen, Clus und Gandersheim. Die Überlieferung beginnt mit einer wahrscheinlich schon um 1130 entstandenen, heute verlorenen Grabinschrift (Nr. 10), die lediglich aus dem für die Anniversarfeier wichtigen Todestag in römischer Tagesdatierung und einem kurzen Grabgedicht besteht. Die erste Grabplatte mit dem seit dem 13. Jahrhundert üblichen Anno Domini-Formular wurde für die 1305 verstorbene Äbtissin Margareta von Plesse gestiftet (Nr. 11). Sie zeigt das typische Formenrepertoire einer Grabplatte mit umlaufender Inschrift: Im Innenfeld einer hochrechteckigen Steinplatte ist die verstorbene Person dargestellt. Auf dem Rahmen ist ein Sterbevermerk angebracht, der in seiner knappsten Form das Sterbedatum, den Namen des Verstorbenen, das zentrale Prädikat obiit oder eine deutsche Entsprechung und eine Fürbitte des Typs requiescat in pace bietet. Der Name wird vielfach erweitert durch Titel wie abbatissa (Nr. 11) oder Weihegrade wie subdiaconus (Nr. 12), durch die standestypischen Epitheta wie z. B. nobilis (Nr. 47) oder ehrwirdiger, ehrnvester vnd wolgelarter (Nr. 50) sowie Bezeichnungen der institutionellen oder familiären Zugehörigkeit praeposita … huius ecclesiae (Nr. 19) oder Abt des Closter Clauß und General-Superintendent zu Gandersheim (Nr. 63). Grabinschriften für Amtsträgerinnen und Amtsträger enthalten zumeist auch Angaben ihrer Regierungszeiten wie z. B. qvae praefvit lavdabiliter anis LIII (Nr. 11) oder Verwalter 19 Jahr bei hisigen closter Brunshausen (Nr. 58). Am Schluß vieler Texte steht eine typische Fürbittformel wie requiescat in pace (Nr. 19) oder in nachreformatorischer Zeit die Bitte um eine fröhliche Auferstehung (Nr. 36 ein frölig vrständ). In Grabschriften seit der Mitte des 16. Jahrhunderts finden sich dann auch die Angabe des Geburtsdatums oder die genaue Bezeichnung der Todesstunde (Nr. 66).

Zwei bis heute in der Stiftskirche besonders auffallende Grabdenkmäler heben sich sowohl hinsichtlich ihrer Inschriften als auch in ihrer äußeren Gestaltung von den üblichen Formen ab: Zum einen das in seiner Grundschicht um 1655 in Schiefer gehauene Epitaph für die Familie des Stiftsseniors Michael Büttner (Nr. 56), dessen Inschrift die Form eines Familienstammbuchs mit Geburts- und Ehedaten sämtlicher Kinder aus beiden Ehen des Stiftsseniors verzeichnet. Zum anderen das schon durch seine Größe besonders auffällige Denkmal für die beiden Äbtissinnen Christine und Marie Elisabeth, Prinzessinnen aus dem Haus Mecklenburg-Schwerin aus dem Jahr 1686 (Nr. 62). Das Text- und Bildprogramm dieses Epitaphs ist hinsichtlich Bildsymbolik und Textmetaphorik der barocken Vergänglichkeitstopik verpflichtet, die sich hier im Spannungsfeld von hoher Abkunft und irdischer Vergänglichkeit entfaltet.

5.2. Reliquieninschriften

Das Frauenstift Gandersheim besaß einen der reichsten und prächtigsten Heiligen- und Reliquienschätze des Mittelalters. Wie andernorts waren auch in Gandersheim die Reliquien nicht in schlichte Kästen verpackt, vielmehr wurden sie in kostbaren silbernen und goldenen Behältnissen bewahrt, welche die Heilsbedeutung der verborgenen Reliquien durch prachtvollen Edelstein-Schmuck, Bildwerke und sprachlich kunstvolle Inschriften visualisierten. Von diesen prachtvollen Behältnissen mit ihren vermutlich reichhaltigen Inschriftenprogrammen hat sich in Gandersheim nur noch ein winziger Rest erhalten, nämlich die Kupferplatte auf der Unterseite eines ansonsten zerstörten Tragaltars (Nr. 5) mit einer metrisch gefaßten Inschrift. Alle übrigen Reliquieninschriften sind auf unscheinbaren Schachteln (Nr. 3), wertlosen Holzdosen (Nr. 25) oder auch auf der Reliquie (Nr. 2) selbst angebracht und bieten nicht mehr als eine schlichte Bezeichnung der Reliquien, ohne eigens auf ihre Heilswirkung zu verweisen. Bemerkenswert ist aber, wie sich in nachreformatorischer Zeit die Bewertung und Verwendung der Reliquien nach Auskunft ihrer Inschriften ins Profane verschiebt: Die Inschriften beschränken sich nicht mehr darauf, die Reliquien zu authentifizieren und unter Umständen ihre Heilswirkung zu benennen. Sie erhalten im 16. und 17. Jahrhundert eine neue Funktion im Rahmen aktueller archivarischer Bemühungen und dokumentieren so ein neues historisches Bewußtsein. Die ehemaligen Objekte des Heiligenkultes werden zu wichtigen und repräsentativen Zeugnissen der eigenen bedeutenden Geschichte (Nr. 61, 68). Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Gründungs- und Sonderheiligen Anastasius, Innocentius und Primitivus.

5.3. Stiftungsinschriften

Die Bewahrung des Gedenkens an Stifter ist eine der wichtigsten Aufgaben von Inschriften, die vor allem in Kontinuität garantierenden klösterlichen Gemeinschaften ihren Wirkungsraum hat. Blickt man auf das Reichsstift Essen, das Ende des 9. Jahrhunderts in den Einflußbereich der Liudolfinger kam, dann lassen sich dort ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts bedeutende Stiftungen liturgischen Geräts vor allem durch die Äbtissin Mathilde, eine Enkelin Kaiser Ottos des Großen, nachweisen.26) In Gandersheim dürfte die Stiftungstätigkeit der frühen Äbtissinnen ähnlich gewesen sein, sie ist aber weder in erhaltenen Objekten des Kirchenschatzes noch in kopial überlieferten Inschriften faßbar. Lediglich eine verlorene, unsicher bezeugte und nicht sicher datierbare Glasmalerei-Inschrift (Nr. 7) bewahrt die Erinnerung an eine Stiftung aus der Familie der Liudolfinger. Auch die Stiftungen der späteren Jahrhunderte sind nur selten inschriftlich bezeugt: Im späten Mittelalter haben die Angehörigen des Kanoniker-Kapitels und die Vikare für die Ausstattung der Stiftskirche Sorge getragen (Nr. 12, 14, 15, 18).27) Ungewöhnlich ist die Stiftung einer Monstranz im Jahr 1452 für das Kloster Clus (Nr. 16): Die in den Hamburger Kämmereirechnungen bezeugte Telse Ekeg stiftete aus dem nachgelassenen Vermögen ihrer Schwiegereltern dem im fernen Südniedersachsen gelegenen Kloster Clus eine reich verzierte Monstranz. Hier wird eine für Clus vielfältig belegbare Stiftungstätigkeit der reichen Kaufmannschaft aus den norddeutschen Hansestädten Hamburg, Bremen und besonders Lübeck sichtbar, die für das wirtschaftlich verarmte Kloster dringend notwendig war. So mußte u. a. der nun zu klein gewordene romanische Chor erweitert werden, weil allein in der Amtszeit des Reformabts Wedego Rese (1460–1505) insgesamt vierundzwanzig Mönche Profeß abgelegt hatten. Neben den Baumaßnahmen, die auch die Konventsgebäude betrafen, wurde im Zuge der spirituellen Erneuerung auch eine Erweiterung der Bibliothek und der Kirchenaussattung nötig (vgl. Nr. 17, 20, 21, 22, 23).

Aus nachreformatorischer Zeit sind vereinzelte Stiftungen von Leuchtern (Nr. 52) durch die Kanonisse Amabilia von Mansfeld oder für Brunshausen durch die dortige Priorin (Nr. 57) sowie eines Kohlebeckens durch die Ehefrau des Stiftsseniors Michael Büttner (Nr. 54) inschriftlich bezeugt. Auch das Gedenken an die Gründer, das Grafenpaar Liudolf und Oda, wurde wachgehalten. Beide Stifter sind in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, also in Zeiten des konfessionellen Umbruchs, in prachtvollen Gewändern auf einem Gemälde mit einem Modell der Stiftskirche dargestellt worden. Ein Merkspruch, der an die Gründung erinnert, ist der Darstellung beigegeben (Nr. 32). An die frühen Schenkungen der Liudolfinger und Ottonen erinnert auch eine Reihe von Medailloninschriften, die Äbtissin Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen (1713–1767) an den Wänden ihrer Residenz in Brunshausen anbringen ließ.28)

5.4. Inschriften auf den sonstigen Stücken der Kirchenausstattung

Sowohl für die Stiftskirche als auch für die beiden Klosterkirchen in Brunshausen und Clus sind mittelalterliche Glasmalereien belegt. Dazu gehören zum einen der spektakuläre Scherbenfund, der die Existenz von qualitativ hochrangigen Glasmalereien aus der Zeit um 1200 für die Klosterkirche in Brunshausen bezeugt (Nr. 9), zum anderen einzelne kopial überlieferte Glasmalerei-Inschriften aus der Gandersheimer Stiftskirche (Nr. 7, 18). In Clus waren die noch in situ befindlichen kleinen Scheiben der Chorverglasung mit einer heute verlorenen Herstellungsinschrift signiert, welche die Bemalung der Fenster als Arbeit der Cluser fratres ausweist (Nr. 20).

Neben den Fenstern waren auch die Wände der Stiftskirche mit Malereien verziert (Nr. 8), die ein im Mittelalter mehrfach belegtes Text-Bild-Programm von Propheten und Aposteln zeigten, denen jeweils Schriftbänder mit den Voraussagen auf die Wiederkunft Christi bzw. einzelnen Artikeln des Glaubensbekenntnisses zugeordnet waren. Schlichte Tituli identifizieren die Heiligendarstellungen auf dem großen bronzenen Standleuchter (Nr. 14), den Hermann von Dankelsheim vor 1433 der Stiftskirche geschenkt hat, und auf zwei verlorenen Figuren der Cluser Klosterpatrone (Nr. 21). Lediglich das Altarretabel des Conrad Borgentrik weist ein etwas umfangreicheres Inschriftenprogramm auf (Nr. 24). Hinsichtlich Anbringungsort und Ausführung nicht sicher einzuschätzen sind drei nur noch kopial überlieferte Tafeln mit Weiheinschriften aus der Zeit nach 1578, die drei wahrscheinlich älteren Altarretabeln in Clus im Rahmen einer Neuweihe beigegeben worden sind (Nr. 38, 39, 40).

6. DIE SPRACHE DER INSCHRIFTEN28)

Angesichts der großen Überlieferungsverluste und der nicht geringen Zahl von Inschriften ohne nennenswerten Textumfang lassen die Gandersheimer Inschriften kaum generalisierbare Beobachtungen zum Sprachwechsel Latein/Deutsch und Niederdeutsch/Hochdeutsch zu. Hinzu kommt eine erhebliche zeitliche Diskontinuität der Überlieferung, die zur Folge hat, daß die normalerweise an den verschiedenen Inschriftentypen zu beobachtenden interessanten Übergangsphasen etwa vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen als solche kaum erkennbar sind. Im Folgenden wird daher lediglich auf einzelne bemerkenswerte Phänomene zur Sprache der Inschriften hingewiesen.

6.1. Latein

Von den 20 lateinischen Inschriften mit nennenswertem Textumfang sind bis 1525 lediglich vier in Versen verfaßt. Die älteste auf einem Tragaltar befindliche (Nr. 5) besteht aus vier Hexametern, eine weitere, wahrscheinlich aus dem Jahr 1130 stammende, ergänzt einen Sterbevermerk in Prosa durch zwei Hexameter (Nr. 10). Eine nicht sicher zu datierende Inschrift auf einem verlorenen Glasfenster ist in zwei elegische Distichen gefaßt, von denen das letzte Distichon zwei- bzw. einsilbigen leoninischen Reim aufweist (Nr. 7). Der auf einem Altar angebrachte Marienhymnus maria mater gratie ist das einzige Zeugnis für die Rezeption einer Antiphon im Gandersheimer Bestand (Nr. 24). Ein recht ambitioniertes Zeugnis lateinischer Dichtung bietet die um 1600 an der Abtei über einem Renaissance-Portal angebrachte Bauinschrift in drei elegischen Distichen, die sich durch die Verwendung gelehrter Metaphorik und antikisierender Anspielungen von den generell eher formelhaften Bauinschriften abhebt (Nr. 46). Sie geht auf den Gandersheimer Stiftspastor Michael Rupius zurück.

6.2. Niederdeutsch und Hochdeutsch

Von den 81 überlieferten Einzeltexten des Gandersheimer Bestands sind 36 in deutscher Sprache verfaßt. Davon entfallen drei auf die Zeit vor 1550, von denen die älteste Inschrift – ein vor 1433 entstandenes kurzes Stiftergebet (Nr. 14) – und eine Glockeninschrift (Nr. 26) das Niederdeutsche verwenden. Die dritte, ebenfalls auf einer Glocke angebrachte niederdeutsche Inschrift (Nr. 31) ist nicht mehr erhalten und kann folglich sprachhistorisch nicht ausgewertet werden, weil die kopiale Überlieferung möglicherweise den originalen Befund nicht genau bewahrt hat. Aufgrund des geringen Bestands an deutschsprachigen Inschriften läßt sich nicht bestimmen, in welchem Zeitraum die Ablösung des Niederdeutschen durch das Hochdeutsche erfolgt ist. Etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts weisen die Inschriften hochdeutsche Formen auf. Lediglich der Reim regirt / entwehrt in einer Inschrift von 1577 (Nr. 36) läßt eventuell gewisse Spuren des Niederdeutschen erkennen, allerdings bewahrt auch diese gemalte Inschrift aufgrund einer erneuerten Farbfassung eventuell nicht den originalen Lautstand. Auffällig ist der hohe Anteil an metrisch gefaßten deutschen Inschriften: 12 Inschriften in Prosa stehen 14 Versinschriften gegenüber, drei davon im deutschen Reimvers (Nr. 26, 32, 36) und elf in Alexandrinern (Nr. 62, 63). Allein zehn der in Alexandriner gefaßten Texte finden sich auf dem durch ein umfangreiches Textprogramm ausgezeichneten Grabdenkmal für die mecklenburgischen Prinzessinnen. Als ihr Verfasser ist der Gandersheimer Pastor Arnold Gottfried Ballenstedt nachgewiesen.

7. SCHRIFTFORMEN

Die schriftgeschichtliche Charakterisierung des Gandersheimer Bestands steht vor demselben Problem wie die sprachhistorische Einschätzung. Aufgrund der hohen Verluste ist der Inschriftenbestand kaum mehr für schriftgeschichtliche Fragen auszuwerten, lediglich Einzelbeobachtungen lassen sich festhalten. Zunächst fällt auf, daß die frühen Reliquienbezeichnungen (Nr. 2, 3) in karolingischer Minuskel, also einer Buchschrift, ausgeführt sind, die nicht die für epigraphische Schriftlichkeit typische ornamentale Gestaltungsabsicht erkennen läßt. Die Objekte, auf denen sie angebracht sind – ein Leinentuch und ein schlichter Holzkasten mit Schiebedeckel – waren, trotz ihres von heute aus gesehen herausragenden historischen Zeugniswerts für den Gandersheimer Reliquienschatz, keine repräsentativen Schauobjekte. Sie befanden sich im Inneren von wertvolleren Reliquienbehältnissen und blieben erhalten, weil sie in nachmittelalterlicher Zeit offenbar wegen ihres fehlenden materiellen Werts für den Verkauf nicht in Frage kamen. Die Geschichte beider Objekte legt nahe, daß die Inschriften nicht in Gandersheim entstanden sind, sondern ihre Ausführung von der die Reliquien vergebenden Institution veranlaßt wurde.

7.1. Majuskelschriften

Von der frühen Kapitalis mit ihrer an den antiken Kapitalisschriften orientierten Proportionen hat sich kein Beispiel erhalten. Die im Rahmen einer Grabung in den 1960er Jahren gefundenen graffitiartigen Putzritzungen aus der frühen Zeit des Klosters Brunshausen (Nr. 1) lassen keine Durchbildung im Sinne einer epigraphischen Schriftart erkennen. Eine vermeintliche Rune im Kontext dieser Ritzungen ist mit Recht als solche angezweifelt worden. Anders verhält es sich mit einem weiteren Fund aus dieser Grabung, den in mehr als 3000 Scherben überlieferten Resten der romanischen Apsisverglasung (Nr. 9). Ihre als Übergangsschrift von der romanischen zur gotischen Majuskel bzw. als frühe gotische Majuskel einzuordnenden eleganten Buchstabenformen mit feinen Strichsporen und kleinen Häkchen lassen deutlich die Nähe zu den Auszeichnungsschriften der zeitgenössischen Handschriften erkennen. Sie orientieren sich allerdings nicht – wie man aufgrund der örtlichen Nähe annehmen könnte – an den Erzeugnissen Hildesheimer Skriptorien und Werkstätten, sondern weisen auffällige Gemeinsamkeiten mit Auszeichnungsschriften in den Handschriften des Hamersleben-Halberstädter Kreises auf.

Zwei Inschriften des Bestands sind in frühhumanistischer Kapitalis ausgeführt. Sie sind beide auf Objekten angebracht, die unmittelbar zum Zentrum der liturgischen Feier gehören: eine 1516 datierte Stiftungsinschrift auf einem Kelch (Nr. 27) sowie Titulus und Jahreszahl auf einem Altarretabel von 1521 (Nr. 29).29)

Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde als Großbuchstabenschrift ausschließlich die Kapitalis benutzt. Sie ist, wie in den niedersächsischen Beständen üblich, die dominierende epigraphische Schriftart in der frühen Neuzeit. Dem klassischen Ideal dieser Schriftform am nächsten kommt die in elegische Distichen gefaßte und antikem Formelgut verpflichtete Inschrift auf der um 1600 datierten Supraporte der Gandersheimer Abtei (Nr. 46). Die in den bisher bearbeiteten niedersächsischen Inschriftenbeständen vorherrschende schmale Form der Kapitalis ist in drei erhaben in vertiefter Zeile ausgehauenen Grabinschriften repräsentiert (Nr. 47, 50, 51). Die Übereinstimmungen in den figürlichen Darstellungen deuten darauf hin, daß die drei Platten aus derselben Werkstatt stammen. Die Ausführung der Inschriften ist hingegen nicht so signifikant ähnlich, daß man allein aufgrund der Schriftform auf einen Werkstattzusammenhang schließen würde. Selbst die Ziffern weisen keine gleichartige Gestaltung auf. Kapitalisbuchstaben werden für deutsche wie für lateinische Texte verwendet, allerdings werden am Lateinischen orientierte Amtsbezeichnungen und Namen (Nr. 62, 66) in deutschsprachiger Texten durch Kapitalisbuchstaben von ihrer Frakturumgebung abgesetzt.

7.2. Minuskelschriften

Als Kleinbuchstabenschrift wurde zunächst die gotische Minuskel verwendet, erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts kommen auch die beiden „neuen“ epigraphischen Schriften auf: die humanistische Minuskel und die Fraktur. Das älteste erhaltene Beispiel für die gotische Minuskel ist die Inschrift auf dem großen Standleuchter (Nr. 14) aus der Zeit vor 1433. Sie weist zwar die für gotische Minuskel auf Metall typischen Schmuckelemente auf, wie durch die Hasten gesteckte Balken bzw. Bogenenden sowie Blättchenverzierungen und Schattenkonturen, doch fehlt ihr bei ihrer wenig sorgfältigen Ausführung der für diese Form der „Goldschmiede-Minuskel“ typische ornamentale Charakter. Nur die Stifterinschrift auf der Monstranz in Clus (Nr. 16) von 1452 wirkt in diesem Sinne ornamental. Aus der Zeit nach der Mitte des 16. Jahrhunderts hat sich keine Inschrift in gotischer Minuskel erhalten. Wahrscheinlich war aber die Meisterinschrift des Berent Drehus auf einer Glocke von 1560 in dieser Schriftart ausgeführt (Nr. 34).

Die Fraktur ist zuerst für zwei deutschsprachige gemalte Gedenkinschriften verwendet worden, und zwar auf der nicht datierten Gedenktafel zur Stiftsgründung (Nr. 32) und auf dem Epitaph für die Äbtissinnen von Chlum vom Jahr 1577 (Nr. 36). Beide Inschriften sind in starkem Maße durch Restaurierungsmaßnahmen überformt und demzufolge schriftgeschichtlich nicht mehr auszuwerten. Dasselbe gilt für die gemalten Frakturinschriften des Mecklenburgischen Epitaphs (Nr. 62). In Stein findet sich die Fraktur auf einem späten, im Jahr 1697 entstandenen Grabdenkmal in Clus (Nr. 66). Für lateinische Texte ist die Fraktur im Gandersheimer Bestand nicht verwendet worden. Diese Beobachtung bestätigt sich in den benachbarten Inschriftenbeständen der Städte Hildesheim (48 Belege für Fraktur) und Einbeck (9 Belege für Fraktur).

Die der Antiqua der Buchschrift entsprechende humanistische Minuskel wurde in Gandersheim für zwei Inschriften in archivierenden Funktionskontexten verwendet: zum einen für die Bezeichnung der Schubladeninhalte des Archivschranks von 1682 (Nr. 61) und zum anderen für die nicht datierte, den Inhalt bezeichnende Aufschrift auf einem Bleidöschen (Nr. 68).

8. NICHT AUFGENOMMENE INSCHRIFTEN

8.1. Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum. Kästchen, sog. Gandersheimer Runenkästchen aus der Stiftskirche in Bad Gandersheim. Auf der Unterseite des Kästchens ist eine Inschrift in Runen angebracht. Runen bleiben im Corpus der Deutschen Inschriften generell unberücksichtigt. Eine Edition mit einer epigraphischen Analyse liegt vor: Elmar Seebold, Die Runeninschrift auf dem Gandersheimer Kästchen. In: Das Gandersheimer Runenkästchen. Internationales Kolloquium. Braunschweig 24.–26. März 1999. Braunschweig 2000, S. 105–109; Tineke Looijenga u. Theo Vennemann, The Runic Inscription of the Gandersheim Casket. Ebd., S. 111–119; Gaby Waxenberger, The Inscription on the Gandersheim Casket and the Runes in the Old English Runes Corpus (Epigraphical Material). Ebd., S. 91–104.

8.2. Brunshausen. Auf der rechten Seite des rechten Fensters im Chor ist in etwa 2 m Höhe eine Inschrift in drei Zeilen angebracht, die durch Restaurierung überformt und vollständig unlesbar ist. H.: 29 cm; B.: ca. 82 cm; Bu.: ca. 5 cm.

8.4. Bad Gandersheim, Stiftskirche. West- und Nordwand der Westempore. In den geglätteten Putz wurden wahrscheinlich im 15. Jahrhundert30) Buchstabenfolgen, römische und arabische Ziffern, unbeholfene kleine Darstellungen und musikalische Notationen auf fünflinigen Notensystemen eingeritzt, außerdem ein Wappenschild mit einem schräglinksgelegten Turnierkragen (vielleicht das Wappen der Hildesheimer Familie Wohldenberg), daneben in zwei senkrechten Reihen acht konzentrische Kreise mit Zirkeleinstich. Da bei den Buchstabengraffiti keine sinntragenden Einheiten erkennbar sind, bleiben die Graffiti insgesamt unberücksichtigt.

8.5. Bad Gandersheim, Stiftskirche. Kreuzigungsgruppe (um 1500). Am Sockel der Marienfigur die beiden in Kapitalis aufgemalten Buchstaben SM für S(ancta) M(aria). Die in Kapitalis mit manierierten Sporen ausgeführten Buchstaben sind Produkt einer späteren Übermalung, vgl. Abb. in Kdm. Kreis Gandersheim, nach S. 136, Text S. 137.

8.6. Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Elfenbeinkästchen mit Reliefdarstellung aus dem Leben Jesu (10. Jh.). Unter dem Boden ist eine Renovierungsinschrift angebracht mit der in arabischen Ziffern ausgeführten Jahreszahl 1345, vgl. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 146. Die Ausführung der Ziffern spricht für einen neuzeitlichen Nachtrag.

  1. Für die inschriftenpaläographischen Beschreibungen wird das in der Terminologie zur Schriftbeschreibung zusammengestellte Begriffsinventar verwendet, vgl. Deutsche Inschriften. Terminologie zur Schriftbeschreibung. Wiesbaden 1999.  »
  2. Zur Klosterreform in Clus vgl. Herbst, Benediktinerkloster Clus. »
  3. Vgl. Scholz, Reichsstift Gandersheim, S. 175. »
  4. Vgl. ebd., S. 188. »
  5. Zu den Verlusten s. Heilmann, Aus Heiltum wird Geschichte, S. 28f.; Scholz Reichsstift Gandersheim, s. 179. »
  6. Vgl. Scholz, Reichsstift Gandersheim, s. 180. »
  7. Zum Schicksal des Gandersheimer Kirchenschatzes in nachreformatischer Zeit siehe Heilmann, Aus Heiltum wird Geschichte. »
  8. Vgl. Lobbedey, Bemerkungen zur Baugeschichte, S. 168. »
  9. Vgl. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 31-39. »
  10. Vgl. ebd., S.32 »
  11. Goetting (Kanonissenstift Gandersheim, S. 24f., S. 27) hat darauf hingewiesen, daß die Bezeichnung "Fräuleinchor" für den mittleren Raum des Westbaus erst im 18. Jahrhundert üblich wurde und sich der Frauenchor im nördlichen Querhausarm befunden hat. »
  12. Vgl. Lobbedey, Bemerkungen zur Baugeschichte, S. 168. »
  13. Vgl. Steinacker in: Kdm. Kreis Gandersheim, S. 24. »
  14. Vgl. Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, S. 171. »
  15. Zu den jüngeren Maßnahmen siehe Gepp, Stiftskirche, S. 15f. »
  16. Lageplan in Kdm. Kreis Gandersheim, S. 171. »
  17. Soweit nicht anders vermerkt, beruht das Folgende auf Keibel-Maier, Baugeschichte der ehemaligen Klosterkirche in Brunshausen; s.a. Goetting, Brunshausen-Gandersheim-Clus, S. 8-11 »
  18. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 39-44, 51-58, 91-129; Goetting, Kanonissenstift Gandersheim, s. 19-26; Goetting, Brunshausen-Gandersheim-Clus, S. 6-11, 173-176; Keibel-Maier, Baugeschichte der ehemaligen Klosterkirche Brunshausen, S. 92-94. »
  19. Vgl. Keibel-Maier, Baugeschichte der ehemaligen Klosterkirche Brunshausen, S. 95f. »
  20. Vgl. Kdm. Kreis Gandersheim, S. 51-58 »
  21. Zu Baumaßnahmen und Ausstattung des Klosters clus im Zuge der Reform vgl. Herbst, Benediktinerkloster Clus, S. 48-64; hier S. 50. »
  22. Der Vergleich mit dem Inschriftenbestand des ebenfalls auf eine liudolfingische Gründung zurückgehenden Reichsstifts Essen zeigt sehr deutlich, daß ähnliche historische Strukturen keineswegs eine gleichartige Inschriftenüberlieferung bedingen, vgl. Die Inschriften der Stadt Essen, gesammelt und bearbeitet von Sonja Hermann. Die Deutschen Inschriften 81. Wiesbaden 2011. »
  23. Zur Verlustgeschichte s. Heilmann, Aus Heiltum wird Geschichte, passim. »
  24. Fr. Henrici Bodonis Syntagma De constructione coenobii Gandesiani perfectione quoque et defectione ejusdem in: Rerum Germanicarum Tomi III, ed. Henricus Meibomius Junior, Helmstedt 1688, T. II, S. 477-510. »
  25. Leuckfeld, Antiquitates Gandersheimenses (wie Anm. 5), S. 53: z. B. heißt es in der Einleitung zur Wiedergabe der Stiftungsinschrift in der Roringischen Kapelle: wie eine daselbst in Stein gehauene Schrifft noch bezeuget. »
  26. Vgl. Hermann, Inschriften im Schatz des Reichsstifts Essen, S. 52–60. »
  27. Auch in Essen trat im späten Mittelalter das Kanoniker-Kapitel als Stifter hervor, vgl. ebd., S. 62–67. »
  28. Gezählt werden im folgenden die einzelnen Inschriften, nicht der in einer Katalognummer behandelte Inschriftenträger, da die Inschriften hinsichtlich ihrer Sprache und der Verwendung von Vers und Prosa verschieden sein können. Berücksichtigt werden nur Inschriften mit nennenswertem Textumfang, d.h. Anno domini, Namen und Initialen ohne Kontext bleiben ausgespart. »
  29. Zur frühhumanistischen Kapitalis in Niedersachsen und ihrer vornehmlichen Verwendung auf Vasa sacra und Altarretabeln vgl. Christine Wulf, Epigraphische Schriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Niedersachsen. In: Epigraphische Schriften „zwischen“ Mittelalter und Neuzeit. Workshop Wien 2006 (im Druck). »