Die Inschriften der Stadt Essen

2. Vorstellung der wichtigsten Standorte und Einordnung der Inschriften in die Stadtgeschichte

2. 1. Stift und Stadt Essen

Die Essener Frauengemeinschaft ist um 850 von einer nicht näher fassbaren adligen Personengruppe um den späteren Hildesheimer Bischof Altfrid und die erste Äbtissin Gerswid gegründet worden.7) Auf Gerswids Beteiligung am Gründungsvorgang weist nur ihre kopial überlieferte Grabinschrift (Nr. 2) hin, in der sie als prima fundans bezeichnet wird. Bereits ab dem 10. Jahrhundert wurde in Essen ausschließlich Bischof Altfrid, der die Münsterkirche als Grablege wählte, als Gründer verehrt. Nach Gerswids Grabinschrift sind es erst die Ende des 16. Jahrhunderts verfassten Äbtissinnenkataloge, die ihr eine besondere Beziehung zu Altfrid zusprechen und sie, ohne Belege allerdings, als Schwester Altfrids bezeichnen.8)

Nach dem vermuteten Erlöschen der Gründerfamilie Ende des 9. Jahrhunderts wandten sich im 10. Jahrhundert die Liudolfinger, Angehörige des ottonischen Königshauses, der Gemeinschaft zu.9) Vielleicht gehörten bereits die Äbtissinnen Hadwig10) und Ida (gest. 971?)11) dieser Familie an,12) erst die Äbtissin Mathilde (um 973–1011) ist allerdings sicher als Liudolfingerin zu identifizieren. Die Beziehungen der Gemeinschaft zum ottonischen Königshaus wurden in den folgenden Jahrzehnten noch enger, nach Mathilde hatten Sophia (1011–1039), Tochter Kaiser Ottos II., und Theophanu (1039–1058), Tochter des Pfalzgrafen Ezzo und seiner Frau Mathilde und damit Enkelin Kaiser Ottos II., die Äbtissinnenwürde in Essen inne. Die Verbindungen zu den Herrschern zeigen sich auch in der Urkundenüberlieferung. Aus der Zeit nach dem Brand 946, der die Konventsgebäude und das Archiv zerstört hatte, bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts sind dreizehn Königs- und Kaiserurkunden bekannt, in denen der Essener Gemeinschaft Privilegien verliehen und bestätigt sowie Schenkungen übergeben werden.13)

Das Essener Stift, gegründet vermutlich auf Eigengut der Verwandtengruppe um Altfrid und Gerswid, war in den königlichen Schutz übergegangen. Die einflussreichen und vermögenden Äbtissinnen waren in der Lage, bedeutende Stiftungen zu finanzieren. Dazu gehören hochwertige Objekte der Goldschmiedekunst wie das sog. Ida-Kreuz (Nr. 5), der von Mathilde gestiftete siebenarmige Leuchter (Nr. 10), das sog. Otto-Mathilden-Kreuz (Nr. 6), das sog. Mathilden-Kreuz (Nr. 8), der verlorene Marsusschrein (Nr. 9), das sog. Theophanu-Kreuz (Nr. 18) und der Prachteinband des von der Äbtissin Theophanu gestifteten Evangeliars (Nr. 20). Mehrere Altarsepulchren (Nr. 17, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35), die im 11. Jahrhundert mit Reliquienbezeichnungen beschriftet wurden, belegen, dass der Reliquienschatz der Kirche in dieser Zeit erheblich erweitert wurde. Der vermutlich von der Äbtissin Mathilde in Auftrag gegebene und von Äbtissin Theophanu vollendete Westbau war mit Wandmalereien (Nr. 28) ausgestattet. Zeugnisse der regen Bautätigkeit sind auch die Weiheinschrift (Nr. 13) und drei Inschriftentafeln (Nr. 14, 15, 16) mit Reliquienbezeichnungen an den Halbpfeilern der drei Altäre, die sich in der von Äbtissin Theophanu in Auftrag gegebenen Krypta befinden. In ihrem Grab, das sich im Osten der Krypta befand, wurde eine Tafel (Nr. 21) niedergelegt, deren Inschrift die kaiserliche Herkunft der Äbtissin hervorhebt.

Im 13. Jahrhundert war auch das Stift Essen in die von den rheinischen und westfälischen Territorialherren geführten Auseinandersetzungen um den Aufbau von Landesherrschaften verwickelt.14) Um ihre Landesherrschaft zu bewahren, mussten die Essener Äbtissinnen die Machtansprüche der zu Stiftsvögten bestimmten Territorialherren, seit 1175 bis 1225 die Grafen von Altena-Isenberg, ab etwa 1244 die Kölner Erzbischöfe, abwehren. Dies gelang durch die Anrufung König Rudolfs von Habsburg, [Druckseite XIII] dem 1275 die Essener Vogtei übertragen wurde. Die zur gleichen Zeit vom Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden erhobenen Ansprüche auf die Schutzherrschaft konnten so abgewiesen werden, auch wenn sich dieser Prozess einige Jahre hinzog. Ausdruck der erfolgreichen Abwehr Kölner Begehrlichkeiten ist unter anderem eine kopial überlieferte Fensterinschrift (Nr. 44), die neben einer Abbildung des thronenden Königs auch Bestandteile des mit Rudolf von Habsburg abgeschlossenen Vogteivertrags wiedergibt.

Die Gründung der Frauengemeinschaft hatte die Entwicklung einer Siedlung um die Stiftsimmunität zur Folge.15) Es ist davon auszugehen, dass sich Handwerker sowie Händler für die Errichtung und Unterhaltung der Stiftsgebäude und zur Versorgung der Stiftsdamen ansiedelten, außerdem wird sich die Landwirtschaft intensiviert haben. Greifbar wird dies z. B. in Urkunden, die das Stift einschließlich seiner Besitzungen und Hintersassen unter Königsschutz stellen,16) in der Verleihung des Privilegs, einen einwöchigen Jahrmarkt abzuhalten,17) sowie in der Nennung von Handwerkern wie Bäcker und Kürschner in einer Urkunde von 1164.18) Diese Quellen beziehen sich alle auf das Stift bzw. die Äbtissin. Die städtische Gemeinschaft tritt erstmals 1243/1244 in Erscheinung, als zwischen den Bürgern und den Ministerialen des Stifts ein Vertrag geschlossen wurde, der u. a. den Mauerbau um die stat Essinde regelte.19) In der Urkunde wird erstmals eine zwölfköpfige Gruppe aus Ministerialen und Bürgern erwähnt, die die Schlichtung von Streitfällen regeln soll und aus der sich der Essener Rat entwickelt. Die Zeit bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war geprägt von den Bestrebungen der Bürgergemeinde nach städtischer Autonomie und dem letztendlich erfolglosen Versuch, den Status einer Reichsstadt zu erlangen und damit die Stadtherrschaft der Äbtissin abzuschütteln.

Im Gegensatz zum Stift Essen, dem fast die Hälfte der bekannten Essener Inschriften zuzuordnen ist, sind die Stadt Essen und ihre Bürger in der Inschriftenüberlieferung kaum vertreten. Im Domschatz haben sich ein von einem Essener Ratsmitglied 1458 gestiftetes Reliquienostensorium (Nr. 74) und ein 1501 zur Erinnerung an die Ehefrau eines Essener Kaufmanns gestifteter Kelch (Nr. 92) erhalten. Die finanziellen Lasten für den Unterhalt der Stiftsgebäude und zur Anschaffung von kirchlichen Ausstattungsstücken wurden vom Stift und von der Stadt gemeinsam getragen, weshalb das Amt des Kirchmeisters meist doppelt besetzt wurde, von einem Kanoniker als Vertreter des Stifts und einem Ratsmitglied für die Stadt. Dies spiegelt sich auch in dem Auftraggebervermerk unter dem Fuß einer Hostienmonstranz (Nr. 79) für die Johanniskirche wider, in dem neben dem Pfarrer von St. Johann, einen Angehörigen des Herrenkapitels, auch der dem Stadtrat angehörende Kirchmeister genannt wird.

Es sind nur wenige Inschriften zur Essener Stadtgeschichte überliefert, die keinen direkten Bezug zum Stift haben. Aus dem Rathaus hat sich die 1483 gegossene Ratsglocke (Nr. 75) erhalten. Nur kopial überliefert ist die Inschrift eines Wandgemäldes im Rathaus (Nr. 93), die den Diebstahl einer Hostienmonstranz während einer Flurprozession 1506 und die anschließende Sicherstellung des Kunstwerkes beschreibt. Auf der Kette der Essener Schützengilde (Nr. 127), die von 1571 bis 1612 in Gebrauch war, sind Initialen und Hausmarken der jeweiligen Schützenkönige dieser Jahre vermerkt. Mit Nr. 126 hat sich das 1569 gemalte Porträt der Tochter eines Essener Bürgermeisters erhalten, das sicherlich ebenfalls ausgeführte Porträt ihres Gatten, eines Mitglieds des Essener Rates, ist nicht auf uns gekommen. Zwei in einer Latrine am Burgplatz ausgegrabene Schreibtafeln (Nr. 55) dokumentieren anhand eines Briefkonzepts die Bemühungen der Stadt, neue Einwohner anzusiedeln, und zeigen mit der Nacherzählung einer Äsop’schen Fabel gleichzeitig einen Teil des Lernstoffs, der an der Jungenschule in der Burg durchgenommen wurde.

Die Einführung der Reformation 1563 durch den Essener Rat bedeutete einen tiefen Einschnitt in den Beziehungen zwischen dem Stift und der Stadt Essen.20) Das Vorgehen des Rates, der für Essen den Status einer Reichsstadt postulierte und sich deshalb im Einklang mit den Regelungen des Augsburger Religionsfriedens berechtigt sah, die Reformation einzuführen, gefährdete die Herrschaftsansprüche der Äbtissin. Es gelang dem Rat, die Marktkirche St. Gertrud, die schon früh als Volks- und Bürgerkirche der Stadtgemeinde angesehen wurde,21) dem Einfluss der Äbtissin zu entziehen. In der Inschriftenüberlieferung zeigen sich die konfessionellen Spannungen in einem nicht mehr erhaltenen Chronostichon (Nr. 121) aus der Marktkirche, in dem die Einführung der Reformation mit [Druckseite XIV] dem Sturz des Belials, also des Teufels, gleichgesetzt wird. Vom Wohnhaus des ersten lutherischen Predigers Heinrich Barenbroich ist eine Fensterinschrift (Nr. 132) überliefert, in der gegen „Sakraments-Schander“, womit die Reformierten gemeint sind, Nonnen, Mönche und „Pfaffen“ gewettert wird. An protestantischem Abendmahlsgerät hat sich nur ein in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hergestellter Abendmahlsbecher erhalten (Nr. 139). Die Stifterin wurde u. a. wegen ihrer reformatorischen Gesinnung aus dem Zisterzienserinnenkloster Mariensaal in Saarn (Mülheim/Ruhr) vertrieben und zog anschließend wohl nach Essen, wo Verwandte von ihr Mitglieder der Honoratiorenschicht waren.

Die Haltung der Äbtissin und der Kapitelsangehörigen der Reformation gegenüber war nicht immer eindeutig.22) Mehreren Äbtissinnen wurde die Nähe zum Luthertum nachgesagt, eine davon, Elsabeth von Manderscheid-Blankenheim (1575–1578), resignierte gar von ihrem Amt, um einen protestantischen Grafen zu heiraten. Die auch innerhalb des Stifts angespannte Atmosphäre zeigt sich beispielsweise in dem inschriftlich ausgeführten Prosatext, der anlässlich des Todes der Äbtissin Irmgard von Diepholz 1575 vor dem Verfall der Sitten warnt (Nr. 129).

Die Situation änderte sich grundlegend, als zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Gegenreformation in Essen Einzug hielt. Auf Drängen der päpstlichen Nuntiatur in Köln, des Kölner Erzbischofs und einflussreicher Jesuiten wurde 1604 Elisabeth von Bergh (s’Heerenbergh) zur Äbtissin postuliert, obwohl sie weder die notwendige hochadlige Abstammung nachweisen konnte noch dem Stift, in dem zu dieser Zeit ausschließlich protestantische Stiftsdamen präbendiert waren, angehört hatte.23) Ihre Amtszeit wurde wohl maßgeblich von ihren Räten bestimmt, während sie selbst einen schwärmerischen Briefwechsel mit ihrem protestantischen Schwager führte und an Religionsfragen wenig interessiert schien.

Im Gegensatz dazu steht die Amtszeit ihrer aus Tirol stammenden Nachfolgerin Maria Clara von Spaur, Pflaum und Vallier (1614–1644).24) Sie versuchte, mit strengen Religionsordnungen in der Stadt Essen und im Stiftsgebiet die Rekatholisierung durchzusetzen25) und spielte sogar mit dem Gedanken, das Stift den Jesuiten zu überlassen.26) Im Sinne der Gegenreformation ist auch die Ansiedlung der Kapuziner zu verstehen, die von Maria Clara und dem Werdener Abt Hugo Preutäus (1614–1646) großzügig gefördert wurden. Dies bezeugen die Inschriften auf der Grundsteinlegungsplatte (Nr. 154) des ab 1618 erbauten Kapuzinerklosters und die Inschriften auf einer Wappentafel (Nr. 155) und einem verlorenen Glasfenster (Nr. 156). Maria Claras Politik der Rekatholisierung wurde zeitweise von den in Essen anwesenden spanischen Truppen gestützt. Diese verließen 1629 aus Angst vor den herannahenden Niederländern die Stadt. Als mit niederländischer Unterstützung dann ein protestantischer Rat installiert werden konnte, floh die Äbtissin mit dem Kirchenschatz und Kanzleiakten nach Köln.27) Hier wurde das Ostensorium (Nr. 172) für die Reliquien der Stiftsheiligen Cosmas und Damian und des heiligen Marsus angefertigt.

Die Inschriften aus dem heutigen Dom und der Domschatzkammer machen etwa die Hälfte des im vorliegenden Band bearbeiteten Bestands aus. Dies hängt auch mit den glücklichen Umständen zusammen, unter denen im Stift Essen die Säkularisation stattfand. Dank der Umsicht der Angehörigen des 1803 aufgelösten Kanonikerkapitels konnte 1809 fast der gesamte Kirchenschatz vor der Beschlagnahmung durch den Fiskus bewahrt werden,28) lediglich zwei Kelche (Nr. 113, 114) wurden sicher an die Bergische Domänenverwaltung abgegeben. Die Kanoniker weigerten sich, das von Fiskalbeamten aufgenommene Schatzinventar zu unterzeichnen, und behaupteten, dass der Schatz schon immer von den Pfarrgemeinden St. Johann und St. Gertrud im Gottesdienst gebraucht worden sei und ihr Kapitel keinerlei Rechte daran habe. Der Schatz verblieb vorerst im Stift, und als Essen 1815 an Preußen fiel, stellte sich die Frage einer Beschlagnahmung nicht mehr.

Nach der Gründung des Bistums Essen 1958 wurde die ehemalige Münsterkirche zur Kathedralkirche erhoben.

2. 2. Werden

Das Kloster Werden wurde Ende des 8. Jahrhunderts von Liudger, Missionar und späterer Bischof von Münster, als Eigenkloster gegründet.29) Nach seinem Tod 809 wurde der Heilige auf eigenen Wunsch in Werden bestattet, sein Grab befand sich außerhalb der zu dieser Zeit bereits fertiggestellten Kirche östlich des Chors. Vermutlich aus dem Besitz Liudgers stammt der älteste Inschriftenträger aus dem Essener Bestand, ein mit Beinplättchen verzierter Kasten (Nr. 1), in dem der Heilige möglicherweise Reliquien aufbewahrt hat. Liudgers Nachfolger sowohl als Münsteraner Bischof als auch als Vorsteher des Klosters Werden wurde sein Bruder Hildegrim I. Ihm folgten mit Gerfrid, Thiadgrim, Altfrid und Hildegrim II. weitere Verwandte des Heiligen, die sog. Liudgeriden, die dem Kloster als Rektoren vorstanden.30) Der Aufstieg zum Reichskloster wurde durch die Übertragung der Abtei durch Hildegrim II., den letzten Werdener Vorsteher aus der Familie des Klostergründers, an König Ludwig den Jüngeren 877 eingeleitet.31) Die Abtei erhielt die Immunität und das Recht der freien Abtswahl. Weitere Privilegien und auch die Königsnähe einiger Werdener Äbte besonders im 12. Jahrhundert32) dokumentieren den Erfolg von Liudgers Gründung.

Wie dieser wählten seine Verwandten und Nachfolger ihre Grablegen nicht in ihren Bischofskirchen in Münster, Châlons-sur-Marne und Halberstadt, sondern in Werden. Die Grablege der Liudgeriden in der Krypta wurde in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts von den Äbten Gero und Adalwig umgestaltet. Die vermutlich im Auftrag von Adalwig angebrachten Inschriften sind kopial überliefert (Nr. 22, 23, 24, 25).33) Adalwig war es auch, der die Gebeine des Klostergründers, die zuvor im Auftrag von Abt Gero von der von Liudger selbst festgelegten Stelle außerhalb der Kirche in die Krypta transferiert worden waren, in den Hochaltar erhob. Die Säulen, die den Schrein34) des Heiligen trugen, sind mit einem Bittgebet für Adalwig (Nr. 26) ausgestattet.

Seit dem 13. Jahrhundert erlebte Werden, wie auch andere Benediktinerklöster, einen Niedergang.35) Reformversuche blieben ohne Wirkung, das Kloster hatte Probleme, seinen Besitz zusammenzuhalten, und musste sich überdies der Bedrohung seines Territoriums durch mächtige Nachbarn wie den Kölner Erzbischof und den Grafen von der Mark erwehren. Auch innerhalb des Klosters kam es zu Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten des Abtes und der Konventualen, deren Lebensweise sich immer mehr derjenigen von Stiftsherren anglich. An Inschriftenträgern sind aus dieser Zeit der sog. Nap des heiligen Liudger (Nr. 49), eine Schüssel, in der Reliquien enthalten waren, und der erneuerte Buchkasten (Nr. 58) für die um 1100 geschriebene „Vita secunda“ des heiligen Liudger auf uns gekommen.

Im 15. Jahrhundert wurde das Kloster schließlich von Vertretern der Bursfelder Reform übernommen.36) Die Reformäbte Dietrich Hagedorn (1477–1484) und Anton Grimmolt (1484–1517) sowie ihre Nachfolger bemühten sich meist erfolgreich darum, entfremdete Güter zurückzuerhalten und die Verwaltung des Klosters zu konsolidieren. Die Verdienste Anton Grimmolts wurden von dem Humanisten und Werdener Säkularkleriker Johannes Cincinnius (gest. 1555)37) in einer 20 Distichen umfassenden Grabinschrift (Nr. 98) gewürdigt. Die Gestaltung und Formulierungen des kunstvollen Epitaphs (Nr. 99) für Anton Grimmolt im Chor wurden für die Grabplatten seiner Nachfolger rezipiert (Nr. 144, 151). Die Reform wirkte sich auch auf das kulturelle Leben in der Abtei aus: Der Bücherbestand konnte erweitert werden, an den Klostergebäuden wurden umfangreiche Baumaßnahmen vorgenommen, die Stephanskirche wurde wieder aufgebaut (Nr. 107), neue Paramente (Nr. 86, 87, 111) und Glocken (Nr. 106, 128, 130) wurden angeschafft und große Tafelgemälde (Nr. 122, 123, 124, 142) in Auftrag gegeben. Einige der aufgezählten Objekte wurden sogar noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angeschafft, obwohl sich die wirtschaftliche Situation zu dieser Zeit durch Misswirtschaft und Veruntreuung bereits deutlich verschlechtert hatte.

Die Anzahl der aus dem Kloster Werden bekannten Inschriftenträger ist deutlich geringer als die des Essener Stifts, es sind nur Inschriften von 37 Inschriftenträgern erhalten oder überliefert. Zwar [Druckseite XVI] gingen in Werden bereits in früheren Jahrhunderten Schatzstücke verloren, wurden verkauft und in der Hoffnung auf Schuldenerlass verschenkt,38) ein großer Teil des Schatzes, darunter sicherlich auch viele nicht überlieferte Inschriften, ist aber erst durch die Säkularisation 1803 an größtenteils unbekannte Käufer gelangt. So kommt es, dass Inschriftenträger aus Werden heute in Museen und Bibliotheken in Berlin (Nr. 58, 184) und Chantilly (Nr. 38) aufbewahrt werden oder auch ganz verschollen sind (Nr. 95).

Mitte des 16. Jahrhunderts hielt die Reformation Einzug in Werden und fand Anhänger sowohl im Kloster als auch unter der Stadtbevölkerung.39) Inschriften im Zusammenhang mit der evangelischen Gemeinde sind allerdings erst aus dem 17. Jahrhundert erhalten. Hinzuweisen ist hier vor allem auf die nur zur Hälfte erhaltene Inschrift auf dem Türsturz (Nr. 179) der ersten evangelischen Kirche in Werden. Die Inschrift auf einem Kelch (Nr. 181), der angeblich von dem Werdener Mönch Peter Ulner bei der Einführung der Reformation 1550 benutzt worden sein soll, stammt aus dem 19. Jahrhundert.

2. 3. Kettwig

Kettwig ist seit der kommunalen Neugliederung 1975 Bestandteil des Essener Stadtgebiets. Die 1052 erstmals erwähnte Siedlung gehörte zum Gebiet des Klosters Werden, das Kirchenpatronat lag zeitweise bei den Grafen von der Mark, den Herren von Oefte und ab 1583 beim Abt von Werden.40) Unter dem Patronat des Herzogs Wilhelm IV. von Jülich-Kleve-Berg ist ab 1552 der Protestant Hermann Kremer als Pastor nachgewiesen, der inschriftlich als Mit-Auftraggeber einer Glocke (Nr. 119) bezeugt ist. Auch als der Werdener Abt das Patronat über die Kettwiger Kirche ausübte, gelang es ihm nicht, die Ausbreitung der Reformation zu verhindern. Der von Abt Konrad Kloedt 1601 als Kettwiger Pfarrer eingesetzte Werdener Mönch Johannes Grimholt trat vor 1607 mit seiner Gemeinde zur reformierten Kirche über.41) Bei den Kettwiger Inschriftenträgern handelt es sich mit Ausnahme der erwähnten Glocke und einer Hausinschrift von 1645 (Nr. 174) vor allem um Grabsteine (Nr. 145, 161, 178, 182, 183) vom Friedhof der evangelischen Kirche am Markt. An einem Tor von Schloss Hugenpoet, das im Stadtteil Kettwig steht, haben sich Reste einer Bauinschrift von 1647 erhalten (Nr. 176), in ‚Haus Oefte’, ebenfalls auf Kettwiger Gebiet, eine Glocke (Nr. 76).

2. 4. Rellinghausen

Der Ort Rellinghausen bestand bereits im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts.42) Die in der älteren Literatur herrschende Meinung, das Stift Rellinghausen sei als Filialkirche des Essener Stifts von der Essener Äbtissin Mathilde gegründet worden, basiert auf Einträgen in den Essener Äbtissinnenkatalogen, deren älteste Abschriften aus dem 17. Jahrhundert stammen, und der Überlieferung einer Grabinschrift für eine Mathilde, die mit der Essener Äbtissin gleichgesetzt wurde.43) Von Rellinghausen wurde jede Abhängigkeit vom Essener Stift besonders im 16. und 17. Jahrhundert bestritten. Auf eine Abhängigkeit könnte aber u. a. hindeuten, dass die Vorsteherin immer als preposita und nicht als Äbtissin bezeichnet wurde, und dass dieses Amt fast immer von Essener Stiftsdamen ausgeübt wurde.44)

Die Gründung des Stifts Rellinghausen durch Äbtissin Mathilde wurde zuletzt von Paul Derks bestritten.45) Er beurteilt die Grabinschrift (Nr. 42) als Essener Fälschung des 17. Jahrhunderts, welche die von Rellinghausen bestrittene Abhängigkeit vom Essener Stift untermauern sollte. Die Untersuchung der Grabinschrift führte jedoch zu dem Ergebnis, dass sie vermutlich zwischen dem 11. und dem 12. Jahrhundert für eine in Rellinghausen bestattete Mathilde verfasst wurde. Bei dieser Mathilde kann es sich allerdings nicht um die gleichnamige Essener Äbtissin gehandelt haben, da deren Grablege in Essen durch den Liber ordinarius der Essener Stiftskanoniker sicher belegt ist,46) sondern [Druckseite XVII] um eine andere, quellenmäßig sonst nicht fassbare Person gleichen Namens. Die Frage, ob das Stift Rellinghausen von Essen aus gegründet wurde und ob und in welcher Art es von Essen abhängig oder im Gegenteil reichsunmittelbar war, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Nach langjährigen Prozessen vor dem Reichskammergericht schlossen beide Stifte 1661 einen Vertrag, in dem sich das Rellinghauser Stift der Hochgerichtsbarkeit und der Landeshoheit des Essener Stifts unterstellte.47)

Der älteste Hinweis auf eine Kirche oder Kapelle in Rellinghausen findet sich in der Memorialverfügung der Essener Äbtissin Theophanu (1039–1058), die festgelegte Geldsummen für ihr Totengedenken in den Stiften Essen und Gerresheim, denen sie als Äbtissin vorstand, sowie in Rellinghausen hinterließ.48) Die Existenz eines von Theophanu gestifteten Kreuzes (Nr. 19), dessen Inschriften kopial überliefert sind, wird von Derks in (unberechtigte) Zweifel gezogen. Ob zu diesem Zeitpunkt in Rellinghausen eine geistliche Gemeinschaft bestanden hat, in der für das Totengedenken der Äbtissin Sorge getragen werden konnte, oder ob nur eine Kapelle vorhanden war, ist umstritten,49) obwohl die Memorialverfügung auf eine geistliche Gemeinschaft hinweist. Wörtlich ist eine congregatio erstmals 1170 bezeugt, als die Essener Äbtissin Hadwig von Wied dieser Gemeinschaft Einkünfte übertrug.50)

Die folgenden Jahrhunderte bieten bis 1500 keinerlei inschriftliche Überlieferung, die in diesem Jahr für die Stiftskirche gegossenen Glockeninschriften (Nr. 83, 84) liefern außer der Jahreszahl keine Informationen, die sich im Hinblick auf die Geschichte des Stifts oder des Dorfs Rellinghausen auswerten lassen. Mit Sicherheit wurde die Stiftskirche zu diesem Zeitpunkt auch für die Pfarrgottesdienste benutzt. Über die Entwicklung der Pfarrgemeinde ist wenig bekannt, im Liber valoris, einem Einkünfteverzeichnis der Diözese Köln vom Anfang des 14. Jahrhunderts, ist Rellinghausen als dem Dekanat Essen zugehörig verzeichnet.51) Für das Jahr 1572 ist ein Pfarrgeistlicher (parochialis rector) belegt, bei dem es sich vermutlich um einen der drei Stiftsgeistlichen gehandelt hat.52)

Die Vogtei des Stifts Rellinghausen lag seit dem 13. Jahrhundert erblich bei den Herzögen von Limburg, die sie später weiterverlehnten.53) Der Vogt stellte einen der beiden Richter des Rellinghauser Gerichts, das 1312 erstmals in Quellen greifbar wird, der zweite Richter wurde vom Stift bestimmt.54) Für das Jahr 1567 ist der Bau eines Gerichtsturms belegt, der vom Vogt und vom Stift finanziert wurde.55) Der Turm war mit einer Inschrift (Nr. 125) versehen, laut der er von der Res publica in usum rei publicae errichtet wurde.

Zwischen 1550 und 1560 fand die Reformation auch in Rellinghausen Anhänger, offenbar traten sowohl die Gemeinde als auch die Angehörigen des Stifts mehrheitlich zum Luthertum über.56) Erst die spanischen Truppen, die sich von 1614 bis 1629 am Niederrhein aufhielten, ermöglichten es der katholischen Seite, in Rellinghausen im Sinne der Gegenreformation zu wirken.57) Die öffentliche evangelische Religionsausübung wurde anscheinend vollständig unterbunden. Dies spiegelt sich unterschwellig vielleicht auch in der Inschrift der 1626 für die Annenkapelle gegossenen Glocke (Nr. 164) wider, deren Formular eher „katholisch“ wirkt: In der Glockenrede wird der Glockenname genannt, der gleichzeitig die angerufene heilige Anna, an deren Festtag jährlich eine Prozession von der Stiftskirche zur Kapelle stattfand, bezeichnet.

Die konfessionelle Situation änderte sich 1629, als die spanischen Truppen von den holländischen Soldaten verdrängt wurden.58) Auf der 1646 für die Rellinghauser Kirche gegossenen Glocke (Nr. 173) sind insgesamt fünf Auftraggeber genannt, von denen vier mit großer Sicherheit als Anhänger der lutherischen Konfession identifiziert werden können. In der Zeit zwischen 1629 und 1648 konnten die Protestanten wieder offener agieren, auch wenn es ihnen letztendlich nicht gelang, die Stiftskirche dauerhaft für ihre Gottesdienste zu benutzen.

Zitationshinweis:

DI 81, Stadt Essen, Einleitung (Sonja Hermann), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di081d007e009.

  1. Vgl. v. a. Derks, Gerswid, S. 13–45; Schilp, Gründung, passim. »
  2. Hiltrop, Catalogus, S. 455; Seemann, Aebtissinnen, S. 1. »
  3. Vgl. Bodarwé, Sanctimoniales, S. 50–60. »
  4. Vgl. ihr Grabgedicht, Nr. 4»
  5. Vgl. Nr. 5»
  6. Althoff, Adels- und Königsfamilien, S. 213, Anm. 298. »
  7. MGH D Lo II. 45 (= Rhein. UB 2, Nr. 154; Essener UB 1, Nr. 2); D Zw 22 (= Rhein. UB 2, Nr. 162; Essener UB 1, Nr. 10); DD O I. 85 (= Rhein. UB 2, Nr. 164; Essener UB 1, Nr. 15), 325 (= Rhein. UB 2, Nr. 166; Essener UB 1, Nr. 19); D O II. 49 (= Rhein. UB 2, Nr. 167; Essener UB 1, Nr. 20); DD O III. 114 (= Rhein. UB 2, Nr. 168; Essener UB 1, Nr. 21), 242 (= Rhein. UB 2, Nr. 169; Essener UB 1, Nr. 22); DD H II. 39a (= Rhein. UB 2, Nr. 170a; Essener UB 1, Nr. 23), 39b (= Rhein. UB 2, Nr. 170b; Essener UB 1, Nr. 24); D Kon II. 121 (= Rhein. UB 2, Nr. 173; Essener UB 1, Nr. 26); DD H III. 82 (= Rhein. UB 2, Nr. 174; Essener UB 1, Nr. 28), 329 (= Rhein. UB 2, Nr. 175; Essener UB 1, Nr. 29); D H IV. 372 (= Rhein. UB 2, Nr. 177; Essener UB 1, Nr. 33). »
  8. Vgl. Gerchow, Äbtissinnen, passim. »
  9. Zur Stadtwerdung Essens vgl. Bettecken, Stift und Stadt, passim; Schilp, Stadtwerdung, passim. »
  10. MGH D O III. 114 (= Rhein. UB 2, Nr. 168; Essener UB 1, Nr. 21). »
  11. MGH D H III. 82 (= Rhein. UB 2, Nr. 174; Essener UB 1, Nr. 28). »
  12. Essener UB 1, Nr. 40. »
  13. Ebd., Nr. 62»
  14. Vgl. Müller, Reformation, passim. »
  15. Schilp, Kanonikerkonvent, S. 193. »
  16. Vgl. Müller, Reformation, S. 69–74. »
  17. Zu ihrer Postulation und ihrem Abbatiat Küppers-Braun, Frauen, S. 118–130; vgl. die Inschriften zu ihrem Totengedenken (Nr. 147, 148, 149). »
  18. Vgl. Küppers-Braun, Frauen, S. 130–136. »
  19. Hoederath, Religionsordnungen, passim. »
  20. Küppers-Braun, Frauen, S. 133f. »
  21. Boschka, Cosmas-und-Damian-Reliquiar, S. 271f., mit älterer Literatur. »
  22. Vgl. Falk, Domschatz, S. 41, 43. »
  23. Zum Gründungsvorgang Freise, Gründervater, passim. »
  24. Zu den Liudgeriden Hauck, Geist, passim; zu Liudgers Wirken in Werden Angenendt, Liudger, S. 116–121, 128–131, zum Priestergeschlecht der Liudgeriden ebd., S. 129ff. »
  25. MGH D LdJ 6 (877 Mai 22) (verunechtet). »
  26. Stüwer, GS Werden, S. 96f. »
  27. Die Inschrift am Grab Hildegrims II. (Nr. 97) wurde nachträglich, vielleicht erst im 16. Jh., hergestellt. »
  28. Vgl. Nr. 153»
  29. Stüwer, GS Werden, S. 97–103. »
  30. Ebd., S. 102ff. »
  31. Eine kurze Bildbeischrift auf einem verlorenen Porträt des Humanisten ist abschriftlich überliefert (Nr. 95). »
  32. Stüwer, GS Werden, S. 32ff. »
  33. Ebd., S. 104; Wallmann, Ulner, passim. »
  34. Brüggemann, Geschichte, S. 8f., 13; Stüwer, GS Werden, S. 283; Fehse, Kirchdorf, S. 258f. »
  35. Stüwer, GS Werden, S. 453. »
  36. MGH D O I. 85 (= Rhein. UB 2, Nr. 164; Essener UB 1, Nr. 15). »
  37. Seemann, Aebtissinnen, S. 3f.; Bucelinus, Germania 2, S. 144. Das Thema wird ausführlich von Derks, Gerswid, S. 119–151 behandelt. »
  38. Vgl. die Liste der Pröpstinnen bei Karsch, Verzeichnis, S. 35–45. »
  39. Derks, Gerswid, S. 119–151. »
  40. Arens, Liber ordinarius, S. 120. »
  41. HStAD, Stift Rellinghausen, Urkunden, Nr. 267 (1661 Juli 30); Grevel, Gerichtswesen, S. 33ff.; Derks, Gerswid, S. 149. »
  42. Rhein. UB 2, Nr. 176; Essener UB 1, Nr. 30. »
  43. Derks, Gerswid, S. 138, mit älterer Literatur. »
  44. Essener UB 1, Nr. 41. »
  45. Oediger, Liber valoris, S. 82. »
  46. Karsch, Geschichte, S. 10, 14. »
  47. Zur Vogtei Grevel, Gerichtswesen, S. 21ff.; Derks, Gerswid, S. 140–143. »
  48. Zum Rellinghauser Gericht Grevel, Gerichtswesen, passim; Potthoff, Gerichtsbarkeit, passim, zum Erstbeleg S. 78 (ohne Quellenangabe). »
  49. Ebd., S. 81f. »
  50. Zur Geschichte der evangelischen Gemeinde in Rellinghausen Karsch, Geschichte, passim, zum Zeitraum bis 1652 S. 7–29. »
  51. Ebd., S. 19. »
  52. Ebd., S. 23f. »