Die Inschriften der Stadt Hildesheim

7. Schriftformen

Der Hildesheimer Inschriftenbestand bietet für die Zeit vom Ende des 10. Jahrhunderts bis 1650 eine kontinuierliche Überlieferung und damit scheinbar eine breite Grundlage für die paläogra­phische Auswertung.120) Durch den großen Anteil an nur noch kopial überlieferten Texten erfährt das Material jedoch eine erhebliche Einschränkung, da selbst die zeichnerischen Wiedergaben nicht in allen Fällen die paläographischen Eigenheiten einer Inschrift mit ausreichender Genauigkeit erfassen.121)

7. 1. Romanische Majuskelschriften

Die mit dem Begriff „romanische Majuskel“ bezeichneten epigraphischen Schriften entfalten sich zwischen der Karolingischen Kapitalis mit ihren an linearen antiken Kapitalis-Schriften orientierten Formen und Proportionen auf der einen Seite und der gotischen Majuskel, einer Mischmajuskel, die „vom Element des Runden ... getragen wird“ auf der anderen Seite.122) Im Bereich der Deutschen Inschriften wird der Begriff für epigraphische Schriftformen verwendet, die etwa zwischen der Ottonischen Renaissance und der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind. Kenn­zeichnend für die romanischen Majuskelschriften ist, daß ausgehend von einem wesentlich kapital bestimmten Alphabet runde Formen – vor allem aus der Unziale, aber auch aus anderen Schriftarten – sowie eckige Sonderformen (vor allem bei C und G) aufgenommen werden. Außer­dem werden die Buch­stabenkörper zunehmend flächig gestaltet, wozu auch die Ausrundung der Übergänge von Bögen und Hasten gehören.123) Der Anteil der zusätzlichen Buchstabenformen nimmt im Laufe der Entwick­lung der romanischen Majuskel generell zu. Einzelbeobachtungen zeigen aber, daß die Aufnahme dieser Formen keineswegs als „stetige Steigerung“ zu verstehen ist.124) Eine kontinuier­liche Entwicklung hin zu einer kanonischen Schriftform ist für die romani­schen Majuskelschriften ohnehin nicht gegeben, vielmehr beschreibt der Begriff das „Potential an Möglichkeiten, das den einzelnen Herstellern von Inschriften“125) im 11. und 12. Jahrhundert zur Verfügung stand, wozu nicht nur die Einbindung von Sonderformen gehört, sondern auch die Verwendung eingestellter Buchstaben (Enklaven, Insertionen) und Buchstabenverbindungen (Nexus litterarum, Ligaturen) sowie die verschiedene Ausführung der Strichstärke (linear, verstärkt, beginnende Schwellungen). Hinzu kommt eine sich verändernde Proportionierung der Buchstaben, die als Abkehr von der klassisch quadratischen Proportion entweder zu einer schlanken Schrift mit schmalerer Ausführung der breiteren Buchstaben O, D, G und M oder zu einer gedrungenen Schrift mit einer stärkeren Breitenausdehnung der schmaleren Buchstaben führt.126) Verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten bot außerdem die Ausführung von Sporen, Abschlußstrichen und deko­rativen Elementen.

Im Hildesheimer Bestand sind 39 Beispiele für romanische Majuskelschriften im Original er­halten und vier weitere in relativ zuverlässigen Zeichnungen überliefert. 23 davon sind auf Metall ausgeführt, elf in Stein, zwei in Gips und je eine in Elfenbein, Bronze und auf Leder. 28 gehören dem 11. Jahrhundert an, 31 dem 12. Jahrhundert, wobei die Zeit vom späten 12. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des folgenden Jahrhunderts als Übergangszeit von der romanischen zur gotischen Majuskel anzusehen ist. Unter den insgesamt 43 paläographisch auswertbaren Beispielen enthalten lediglich vier ein Datum, nämlich die Inschriften auf der Bernwardtür (Nr. 9) und auf dem Grund­stein von St. Michaelis (Nr. 6) sowie zwei Grabinschriften (Nr. 43 u. 45). In weiteren neun Inschriften ist die Entstehungszeit über die Nennung eines Stifters oder über die Zuweisung einer Inschrift zu einem bestimmten Verstorbenen relativ genau festzulegen. Alle übrigen sind mehr oder weniger unsicher datiert, d. h. ihre zeitliche Einordnung mußte durch eine Kombination von epigraphischen, stilkritischen und sonstigen historischen Datierungsindizien vorgenommen werden. Dieses Datierungsdilemma erschwert die schriftgeschichtliche Strukturierung des Belegmaterials [Druckseite 61] vor 1200 noch zusätzlich, zumal auch in anderen Beständen für diese Zeit nur wenige exakt datierte Inschriften überliefert sind. Eine erste schriftgeschichtliche Einschätzung des sowohl quantitativ als auch hinsichtlich der verschiedenen Ausführungstechniken reichen Hildesheimer Materials der frühen Zeit kann daher nicht mehr leisten, als die Beobachtungen zu den verschiedenen Entwick­lungstendenzen auf dem Weg zur gotischen Majuskel zusammenzustellen.

Am Beginn der Überlieferung steht das mit elf Inschriften wohl größte geschlossene epigraphi­sche Ensemble dieser Zeit auf den Stücken der berwardinischen Stiftungen.127) Die Buchstabenfor­men werden von der Kapitalis dominiert, die gekennzeichnet ist durch spitze bis leicht trapez­förmige A mit nur nach links überstehendem Deckbalken128) und M mit unter die Mittellinie gezogenem Mittelteil.129) An Sonderformen werden eckige C,130) unziale E,131) unziales A (Nr. 16 mit Abb. 14) und – in beiden Fällen unsicher bezeugt bzw. nicht komplett erhalten – symmetrisches unziales M (Nr. 10, Nr. 16 mit Abb. 14) verwendet. Auch in nachbernwardinischer Zeit stellt die Kapitalis noch immer den Grundbestand der Buchstabenformen. Bis zur Mitte des 12. Jahrhun­derts kommen an Sonderformen lediglich noch das unziale und das runde U (Nr. 26 mit Abb. 23) hinzu, sieht man von den Inschriften des Hezilo-Leuchters ab (Nr. 25). Diese nehmen in bezug auf die Formenvarianz eine Sonderstellung unter den Inschriften des 11. Jahrhunderts ein. Eckige C und G, unziale A, E, H, Q und U wechseln ab mit den rein kapitalen Ausformungen derselben Buchstaben und erweisen diese Inschriften zumindest hinsichtlich der Grundform der Buchstaben als früheste Beispiele für eine in diesem Entwicklungsstrang ausgeprägte romanische Majuskel. Daneben sind aber bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts auch reine Kapitalisinschriften nachweisbar.132)

Nach der Mitte des 12. Jahrhunderts nimmt die Zahl der Sonderformen in den Inschriften erheblich zu, wobei nur noch vereinzelt eckige C vorkommen (Nr. 38 mit Abb. 39 u. Nr. 53 mit Abb. 34), während die runden und unzialen Formen in vielen Inschriften bereits regelmäßig mit den kapitalen Entsprechungen alternieren oder auch ausschließlich die runden Varianten eines Buchstabens verwendet werden, wie z. B. in den gravierten Inschriften auf den beiden großen Schreinen (Nr. 40f. mit Abb. 35–38) oder in den in Stein ausgeführten Grabinschriften des Hermannus decanus (Nr. 39 mit Abb. 40) und des Priesters Bruno (Nr. 46 mit Abb. 44). Die zuletzt genannte Inschrift ist außerdem durch eine besonders variantenreiche Ausführung des A gekennzeichnet. Daneben gibt es aber mit den Inschriften auf dem Oswald-Reliquiar (Nr. 47 mit Abb. 41) auch aus dem späten 12. Jahrhundert noch ein Beispiel für kapital bestimmte Schriften, in denen außer dem ausschließlich in der unzialen Form verwendeten E und dem eingerollten G keine runden Formen vorkommen. Diese mit feinem Strich besonders qualitätvoll gearbeitete Inschrift zeigt, daß auch unter den vielfach von modernen Elementen geprägten Inschriften auf Gold­schmiedearbeiten (Nr. 40f. mit Abb. 35–38) innerhalb der romanischen Majuskelschriften gewisse „retardierende“ Ausführungen zu beobachten sind.

Ansätze zu einem Wechsel in der Strichstärke der Buchstabenkörper lassen sich bei den bern­wardinischen Inschriften nur selten in leicht keilförmig angelegten Hasten, Balken und Bogenenden erkennen.133) Hin und wieder enden die Buchstaben in Dreiecksporen. Die Strichstärke bleibt mit den genannten Ausnahmen und abgesehen von einzelnen leichten Bogenverstärkungen besonders bei den runden (Nr. 14 mit Abb. 9) und leicht spitzovalen O134) noch überwiegend linear.135) Ausge­prägtere Flächigkeit beschränkt sich auf die Bögen und die Sporenansätze des S und auf die [Druckseite 62] Schwellungen der R-Cauden.136) Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts lassen sich gewisse Tendenzen einer zunehmenden Flächigkeit und Rundung in der Gestaltung des Buchstabenkörpers beobachten, wie z. B. ausgeprägtere Schwellungen an den Cauden von R und Q.137) In einzelnen Inschriften ist rundes wie eckiges E mit großen Sporen versehen, so daß fast der Eindruck eines geschlossenen Buchstabens entsteht.138) Die meisten Beispiele sind allerdings mit linearer Strich­stärke ausgeführt, wie z. B. die hinsichtlich der Buchstabenformen ausgesprochen fortschrittliche Inschrift auf dem Grabdenkmal des Hermannus decanus (Nr. 39 mit Abb. 40).

Enklaven und Ligaturen werden sparsam und überwiegend zum Zweck der Platzersparnis verwendet mit Ausnahme der Inschriften auf der Bernwardtür (Nr. 9 mit Abb. 12f.), die mit der ausführungstechnischen Nähe zur Mainzer Willigistür139) auch von deren Schriftgestaltung angeregt worden sein könnte.140) In größerer Zahl sind Ligaturen und Enklaven nur für die Inschriften der Gewölbemalereien aus der westlichen Vorhalle des Doms bezeugt, die allerdings nicht mehr im Original, sondern in einer Zeichnung überliefert sind (Nr. 33). An Zierformen lassen sich in den Inschriften der Bernwardzeit lediglich Ausbuchtungen am Querbalken des H und am Kürzungs­strich beobachten (Nr. 4 mit Abb. 8 u. Nr. 14 mit Abb. 9). Seit dem zweiten Drittel des 12. Jahr­hunderts sind einzelne Buchstaben mit kleinen Blättchen verziert (z. B. Nr. 40f. – teilweise erneuert – mit Abb. 35–38 u. Nr. 48), die auch in der gotischen Majuskel der Domtaufe (Nr. 67) und bei den Inschriften der Kaselstäbe (Nr. 82) als Schriftschmuck verwendet worden sind. Eine Verdoppelung der Schrägschäfte ist nur bei den N der Schreininschriften zu beobachten, allerdings in einem teil­weise erneuerten Abschnitt der Inschrift (Nr. 40f. mit Abb. 35–38).

7. 2. Gotische Majuskel

Die gotische Majuskel ist eine Mischmajuskel aus kapitalen und runden Formen mit einem zuneh­menden Anteil runder Buchstaben. Typisch sind ausgeprägte keilförmige Verbreiterungen von Schaft- und Bogenenden, Bogenschwellungen und eine gesteigerte Flächigkeit des Buchstabenkör­pers. Hinzu kommt die Vergrößerung der Sporen an Schaft-, Balken- und Bogenenden, die zu einem Abschlußstrich zusammenwachsen und damit den Buchstaben vollständig abschließen können.

Im Hildesheimer Bestand ist diese Schriftform vom zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts bis zum Jahr 1404 (Nr. 125) in 27 erhaltenen und fünf einigermaßen zuverlässigen zeichnerischen Wie­dergaben bzw. einem Photo überliefert. Nach diesem Zeitraum wird sie nur noch vereinzelt für Christusnamen (IHESVS, INRI, XPC) verwendet.141) Von den 33 paläographisch auswertbaren Inschriften sind 16 in Metall oder Elfenbein graviert, zwei gegossen, eine gemalt und 14 in Stein gehauen, drei davon erhaben. In der ersten Zeit bis 1280 begegnet die gotische Majuskel im vorliegenden Bestand nur auf Metall,142) in Stein ist diese Schriftform zum ersten Mal im Jahr 1280 auf der in die Wand des ehemaligen Johannisstifts eingelassenen Tafel ausgeführt (Nr. 71, heute Mauer am Dammtor).

Bei den Grundformen der Buchstaben setzt sich zunächst der Entwicklungsstrang des regel­mäßigen Alternierens von kapitalen und runden Formen der romanischen Majuskel fort (Nr. 64 mit Abb. 47f.). Er erreicht seinen Höhepunkt in den Inschriften der Domtaufe (Nr. 67 mit Abb. 49f.), in denen elf Buchstaben in beiden noch in sich variierten Grundformen ausgeführt wurden. Auch die in Stein gehauene Grabinschrift der Offenia von 1301 (Nr. 76 mit Abb. 70) ist noch vom Formprinzip des Alternierens geprägt. Dies ist hier offenbar sehr bewußt als Schriftschmuck einge­setzt worden, da dieselben Buchstaben, wenn sie nahe beieinander stehen, jeweils in verschiedenen [Druckseite 63] Formen gehauen worden sind. Gleiches gilt für die nur noch zeichnerisch überlieferte Inschrift auf der für Bischof Siegfried († 1310) angefertigten Metallgrabplatte (Nr. 77 mit Abb. 181). In den späteren Inschriften hingegen kommt dieses variierende Prinzip weitaus seltener zur Anwendung, oft wird nur noch ein einziger Buchstabe (Nr. 80: F, Nr. 99: I/J, Nr. 102: T) in zwei Formen ausge­führt oder die kapitalen Alternativen (Nr. 84) werden zugunsten der durchgängig verwendeten runden aufgegeben.

Die Enden der Hasten, Balken und Bögen sind mit Sporen versehen, wobei die feinen Strich­sporen lediglich in den frühen gotischen Majuskeln vorkommen (Nr. 64 mit Abb. 47f. u. Nr. 67 mit Abb. 49f.), während in späterer Zeit die Sporen ausladender konstruiert sind.143) L mit großem Balkensporn findet sich in Nr. 68f., Nr. 88 mit Abb. 56 u. Nr. 96. Die Sporen des unzialen E sind bereits bei den frühen Beispielen der gotischen Majuskel zu einem Abschlußstrich verbunden (Nr. 64 mit Abb. 47f. u. Nr. 67 mit Abb. 49f.), C hingegen wird zum ersten Mal in der gravierten Inschrift auf der Grabplatte Bischof Ottos von 1279 (Nr. 70 mit Abb. 52) in geschlossener Form ausgeführt. Abschlußstriche am unzialen M, am runden T und am runden U sind erst im 14. Jahr­hundert zu beobachten.144) Die Tendenz zum kompakten, abgeschlossenen Einzelbuchstaben spart auch die eckig-spitzen Formen nicht aus, so sind z. B. spitze V und eckige E in einzelnen Fällen mit Abschlußstrichen versehen (Nr. 70 mit Abb. 52 u. Nr. 88 mit Abb. 56).

Die meisten gotischen Majuskeln des Bestands weisen nur mäßige Varianz in der Strichstärke auf.145) Flächigere Bereiche bleiben auf die Bogenschwellungen und die Verbreiterung der Hasten­enden beschränkt. Lediglich in den mit ausgeprägt ornamentalem Anspruch ausgeführten Inschriften der Domtaufe (Nr. 67 mit Abb. 49f.) und der Glocke von 1270 (Nr. 68) kontrastieren dünne Linien mit zum Teil üppigen Schwellungen und verbreiterten Hasten. Auch die Inschrift auf der Bodenplatte des 1312 oder später entstandenen Silvester-Kopfreliquiars (Nr. 80 mit Abb. 55) ist durch verschiedene Strichstärken gekennzeichnet, wobei die flächigen Bereiche den Schrifteindruck bestimmen. Noch deutlicher ausgeprägt ist diese Tendenz zur Variation der Strichstärke in der Inschrift auf dem Großen Bernwardkreuz aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts (Nr. 63). Als Zierformen sind in den gotischen Majuskelschriften einzelne in doppelter Kontur ausgeführte Bal­ken und Schräghasten146) sowie Nodi an den Hasten von T oder I 147) und Zierhäkchen an Hasten und Balken nachzuweisen.148)

7. 3. Frühhumanistische Kapitalis

Der Begriff „frühhumanistische Kapitalis“ bezeichnet eine Mischschrift, die auf das Formenreper­toire verschiedener Großbuchstabenschriften zurückgreift. Neben kapitalen, runden und unzialen Formen stehen eckige Buchstaben (C, G und O), gelegentlich werden auch Minuskeln und Elemente aus byzantinisch-griechischen Schriften einbezogen bzw. zusätzlich besondere Einzel­formen kreiert. Ihre Bezeichnung erhielt diese Schriftform, weil sie wahrscheinlich durch gelehrte humanistische Kreise im Umfeld der Reformkonzilien von Konstanz und Basel in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den deutschen Sprachraum transferiert wurde.149) Zum Formenkanon dieser Schrift gehören: epsilonförmiges (zweibogiges) E, retrogrades (spiegelverkehrtes) N, M in der Form [Druckseite 64] des byzantinischen M150) oder als konisches M mit durchgebogenen Hasten und sehr kurzem, über der Buchstabenmitte endendem Mittelteil sowie offenes kapitales D. An Schmuckformen kommen Ausbuchtungen, Nodi und Halbnodi an Hasten, Balken und Schräghasten, vornehmlich bei H, I, N und Z, vor. Sofern im Zusammenhang mit der frühhumanistischen Kapitalis arabische Ziffern begegnen, sind diese ebenfalls durch besondere Formen gekennzeichnet, wie z. B. die 5 mit links­gewendeter Fahne (Nr. 278) oder die Schlingenvier (Nr. 280 u. Nr. 283 mit Abb. 89).

Im vorliegenden Bestand wird dieser Schrifttyp vor allem für Inschriften auf Goldschmiede­arbeiten sowie in der Tafelmalerei und auf gefaßten Holzskulpturen verwendet.151) Hier sind es in der Regel die Blattgoldnimben und Gewandsäume der dargestellten Heiligen, die mit Buchstaben der frühhumanistischen Kapitalis verziert sind. Die Ausführungen in Stein beschränken sich auf wenige Beispiele mit meist geringem Buchstabenbestand (Nr. 216, 217B, 226, 280 u. 379). Das früheste Beispiel für die frühhumanistische Kapitalis stammt von dem 1489 für das Kloster Marien­rode angefertigten Kelch aus der Werkstatt des Bartold Magerkol (Nr. 204 mit Abb. 85), dessen Inschrift durch ein charakteristisch gestaltetes kapitales G gekennzeichnet ist. Dasselbe G findet sich auch auf der Großen Silberpatene des Domschatzes (Nr. 206 mit Abb. 88), die dadurch der Werkstatt Magerkols zugeordnet und zeitlich in die Nähe des datierten Kelchs gestellt werden kann. Kennzeichnend für die Schriften des Bartold Magerkol sind weiterhin die sehr weit offenen C und unzialen E, die spitzen A mit senkrechter rechter Haste (vor allem auf der Patene) und meist nur nach links überstehendem Deckbalken. Die überwiegende Zahl der frühhu­manistischen Kapita­lisschriften sowohl auf Goldschmiedearbeiten (Nr. 228 mit Abb. 86f.) wie auch in den Blattgold­nimben und auf den Gewandsäumen sind in verschiedenen Techniken konturiert ausgeführt, wobei sich die Buchstabenkörper glatt vor dem bearbeiteten Hintergrund abheben. Aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts sind Holzskulpturen und ein Tafelbild überliefert, auf denen die Inschriften der Gewandsäume zum Teil aus einer sinnlosen Folge von Buchstaben bestehen (Nr. 273f., 276152) u. 312), was für diese vor allem ornamentalen Ansprüchen genü­gende Inschriftengattung nicht unge­wöhnlich ist.153) Die zeitgleichen umfangreichen Inschriften auf den gemalten Altären (Nr. 313 mit Abb. 115f. u. Nr. 314 mit Abb. 114) schöpfen den variantenreichen Vorrat an Grundformen voll aus, verzichten aber auch in den Gewandsaumin­schriften auf rein ornamentale Buchstabenfolgen.

Neben den für diese Schriftart typischen Zierformen sind in einem Fall auch spitz ausgezogene Schwellungen an den Bögen von C und P (Nr. 228 mit Abb. 86f.) zu beobachten. Ausgeprägte Sporen finden sich, bedingt durch die meist feinstrichige Ausführung der Buchstabenkörper, nur bei den beiden gravierten Inschriften (Nr. 283 mit Abb. 89 u. Nr. 317), wobei an den Inschriften auf dem Kopfreliquiar des heiligen Vincentius (Nr. 283 mit Abb. 89) einzelne dreizackige Sporen auffallen. In den übrigen frühhumanistischen Kapitalisinschriften enden die Buchstaben ohne besondere Betonung, vereinzelt sind feine Strichsporen zu beobachten (Nr. 313 mit Abb. 115f.).

7. 4. Kapitalis

Die Kapitalis wird im Hildesheimer Bestand zum ersten Mal154) in einer gravierten Inschrift auf der Unterseite der Sockelplatte eines um 1505 entstandenen Kelchs verwendet. Sie ist in leicht schräg­liegenden, teilweise konturierten Buchstaben ausgeführt (Nr. 269 mit Abb. 112). Die erste sicher datierte aufrecht stehende Kapitalis befindet sich auf der 1531 entstandenen Metallgrabplatte für den Dompropst Levin von Veltheim (Nr. 319 mit Abb. 101f.). Während für die eigentliche Grab­schrift eine gotische Minuskel verwendet wird, sind die Künstlerinschrift des Gießers Cord Mente [Druckseite 65] und die Beischriften zu vier Tugenden erhaben in Kapitalis gegossen. Eine Reminiszenz an die Formen der frühhumanistischen Kapitalis bietet lediglich das offene kapitale D in CORDT. Es folgen die ebenfalls erhaben, aber in Stein ausgeführten Inschriften von der Kurie Steinberg aus dem Jahr 1534 (Nr. 323 mit Abb. 118). Wie diese beiden frühen Beispiele sind die in Holz oder Stein ausgeführten Kapitalisinschriften und auch die in Messing oder Bronze gegossenen nahezu ausnahmslos erhaben ausgeführt. Einzelne Inschriften weisen deutliche Linksschrägen- und Bogenverstärkungen auf (z. B. Nr. 352 mit Abb. 126) sowie Wechsel von Haar- und Schattenstri­chen zwischen Hasten und Balken (Nr. 365 mit Abb. 133). Die Buchstabenformen beschränken sich mit wenigen Ausnahmen (Nr. 327 mit Abb. 110 unziales E, Nr. 609, Nr. 777) auf den Bestand des Kapitalis-Alphabets. Der Mittelteil des in der Regel konischen M endet deutlich unterhalb der Buchstabenmitte (Ausnahme Nr. 442 mit Abb. 140), erreicht jedoch in den meisten Fällen nicht die Grundlinie. Die Schriftbeispiele aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermit­teln überwiegend den Eindruck eines sorgfältig gestalteten ausgewogenen Schriftbildes, obgleich durch die gestreckte Ausführung der Buchstaben in keinem Fall das Bestreben nach klassischer Proportion erkennbar ist. Auch die Verwendung schrägliegender Kapitalisschriften bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts zeigt deutlich, daß das klassische Schriftideal hier wie auch in anderen nieder­sächsischen Beständen für die Renaissance-Kapitalis nicht normgebend war. Eine Sonderstellung innerhalb des Hildeshei­mer Bestands nehmen die 1546 entstandenen Inschriften auf dem Epitaph des Arnold Freitag und auf dem von ihm gestifteten Domlettner ein (Nr. 353f. mit Abb. 121, 125 u. 120). Sie sind teils erhaben teils vertieft ausgeführt. Ihre Einzelformen, vor allem die in einer Renaissance-Kapitalis ungewöhnliche E-caudata und das charakteristische, den gesamten Buchstaben durchschneidende Q(UE)-Kürzel schließen beide Arbeiten eng an zeitgleiche Steininschriften im Dom zu Münster an, die einer Werkgruppe um den westfälischen Meister Johann Brabender zugeordnet werden. Im Hildesheimer Bestand haben diese Beispiele keine Parallele.

Unter den Kapitalisinschriften aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts fällt eine kleine Gruppe von Inschriften an Steinhäusern auf, deren Schriftgestaltung und Ausführung deutlich unter dem Niveau der sonstigen liegt. Sie sind in schmal proportionierten Schriften ausgeführt und oft sehr gedrängt in den knappen zur Verfügung stehenden Raum eingepaßt.155) Einzelne der frühhu­manistischen Kapitalis entlehnte Formen fügen sich nicht harmonisch in die Schriftumge­bung ein. Zudem bewirken Wechsel in der Ausrichtung einzelner Buchstaben den Eindruck eines unruhigen Schriftbildes (Nr. 428 u. 379). Erstaunlicherweise gehören zu diesen Fällen auch die Inschriften des Kaiserhauses, deren epigraphische Ausführung deutlich hinter den anspruchsvollen Textinhalten zurückbleibt. Abgesehen davon stören auch zahlreiche Haufehler das Verständnis in erheblichem Maße (Nr. 467 mit Abb. 142–145). Von diesen Kapitalisschriften hebt sich eine andere Gruppe durch deutlich höhere Ausführungsqualität ab. Sie ist gekennzeichnet durch E mit sehr kurzen mittleren Balken, durch große Sporen an den oberen Bogenenden von C, G und S, eine spitzwinklige aufgerichtete 7 mit langem Schrägschaft, Q mit ausgeprägten nach unten verlaufenden Cauden und leicht nach links geneigten S. Diese Buchstabencharakteristika finden sich in den Inschriften auf dem Stein von der ehemaligen Godehardimühle (Nr. 442 mit Abb. 140) sowie auf den Grabdenkmälern für Burchard von Landesberg (Nr. 480) und für Kaspar von Dechau (Nr. 484 mit Abb. 141). Da das Grabmal des 1588 verstorbenen Burchard von Landesberg aus stilistischen Gründen der Hildesheimer Bild­hauerwerkstatt Wolf, speziell Ebert Wolf d. J., zugeschrieben wird, machen die übereinstimmenden durchaus spezifischen Schriftmerkmale wahrscheinlich, daß auch die beiden anderen Objekte aus dieser Werkstatt stammen. Ob die Inschrift auf dem Stein an der ehemaligen Godehardimühle aus dem Jahr 1578 eventuell auch von seinem gleichnamigen und zur selben Zeit arbeitenden Vater angefer­tigt worden sein könnte, läßt sich nicht klären, da beide Meister sowohl in der Kapitalis wie auch in der Fraktur (vgl. S. 68) weitgehend dieselben Schrifttypen verwendet haben. Im Unterschied zu den Einbecker156) und Braunschweiger Arbeiten der Wolfschen Werkstatt sind die Hildesheimer Objekte sämtlich nicht signiert. Auch haben die in der Braunschweiger Grabinschrift für Ludolf Schrader von 1589 verwendeten Häkchen am oberen Bogen des S in den Hildesheimer Beispielen keine Parallele. [Druckseite 66]

Die erhabenen, auf Holz oder in Stein angebrachten Kapitalisschriften vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts sind in der Regel aufrecht und mit Ausnahme einzelner qualitätvol­ler Schriften, die Wechsel von Haar- und Schattenstrichen aufweisen (Nr. 647 mit Abb. 160 u. Nr. 665), in einheitlicher Strichstärke ausgeführt. In den gravierten Inschriften sind die Schattenstriche durch konturierte Ausführung hervorgehoben.157) M ist seit Beginn des 17. Jahrhun­derts überwie­gend mit geraden Hasten,158) selten noch in der konischen Form ausgeführt (Nr. 642, 677 u. 694). Rundes U statt V zur Bezeichnung des Vokals u ist ähnlich wie im Bestand Hannover159) erst seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts vereinzelt (Nr. 609 u. 714) zu beobachten, dominant bleibt in Hildesheim jedoch die V-Schreibung. Ligaturen und Enklaven werden gelegentlich zum Zweck der Platzersparnis gesetzt (Nr. 578 mit Abb. 171, Nr. 725 u. Nr. 728 mit Abb. 163).

7. 5. Gotische Minuskel

Die gotische Minuskel entspricht innerhalb der epigraphischen Schriften im Idealfall der Textura der Buchschrift. Kennzeichen dieses Schrifttyps ist die Brechung der Schäfte und Bögen (vgl. Abb. 65). Die im Mittelband stehenden Schäfte (z. B. von i, m, n, u, v etc.) werden an der Oberlinie des Mittelbandes und an der Grundlinie gebrochen, Bögen durch stumpfwinklige Brechung oder spitz­winkliges Abknicken in senkrechte und schräge Bestandteile umgeformt. Die Umformung der Bögen in schräge und parallel ausgerichtete senkrechte Elemente gibt der Schrift einen von der Vertikalen dominierten, gleichförmigen Charakter, der in vielen Fällen den Eindruck einer gitter­artigen Buchstabenfolge vermittelt.

Im Hildesheimer Bestand ist die neue Schriftart zum ersten Mal im Jahr 1350 in einer zuver­lässig kopial überlieferten Meistersignatur bezeugt, die gleichzeitig als erste deutschsprachige Inschrift des Bestands zu verzeichnen ist (Nr. 91). Den frühesten erhaltenen Beleg bietet das Epi­taph für den 1375 verstorbenen Dietrich Digni (Nr. 100 mit Abb. 60). Das Aufkommen der goti­schen Minuskel in Hildesheim entspricht damit den Erstbelegen in den bislang edierten Inschrif­tenbe­ständen aus der Region.160) Sie wird fast bis zum Ende des 16. Jahrhunderts kontinuier­lich verwen­det, allerdings nehmen die Belege nach 1540 deutlich ab. Die letzte kopiale Bezeugung stammt aus dem Jahr 1589 (Nr. 487 D), die jüngste erhaltene sicher datierte gotische Minuskel, die ausschließ­lich Buchstabenformen dieser Schriftart verwendet, ist 1573 (Nr. 426 mit Abb. 134) entstanden. Die gotische Minuskel kommt in verschiedenen Ausführungstechniken auf unter­schiedlichen Beschreibstoffen vor: Neben wenigen gemalten und gestickten Inschriften domi­nieren die in Holz geschnitzten oder in Stein gehauenen Beispiele, bei denen – wie in den niedersäch­sischen Beständen allgemein zu beobachten – die Ausführung in erhabenen Buchstaben vor­herrscht. Hinzu kommen die teils erhaben gegossenen, teils glatt vor bearbeitetem Hintergrund gravierten gotischen Minuskeln der Messing- oder Bronzegrabplatten und eine nicht unbeträchtliche Zahl von Gold­schmiedearbeiten, deren Inschriften entweder dünnstrichig graviert oder – wie bereits für die Metallgrabplatten beschrieben – als konturierte glatte Buchstabenkörper vor meist schraffiertem Schriftgrund ausgeführt sind. In ähnlicher Technik sind auch die im Rahmen der Tafelmalerei in Blattgold angebrachten Inschriften der Nimben von Heiligen und biblischen Personen gearbeitet.

Die frühen in Stein oder Holz ausgeführten Buchstaben stehen noch weitgehend in dem für Großbuchstabenschriften üblichen Zweilinienschema: Ober- und Unterlängen ragen meistens nur wenig über das Mittelband hinaus. Erst die Belege des 16. Jahrhunderts haben zum Teil ausgeprägte, oft gegabelte Oberlängen,161) während die Unterlängen in den meisten Fällen wenig unter das Mittel­band reichen. Unter den bis zum ersten Viertel des 15. Jahrhunderts entstandenen [Druckseite 67] gotischen Minuskeln gibt es sowohl bei den erhabenen als auch bei den eingehauenen Schriften einzelne Fälle, in denen die Buchstabenenden von u und/oder n ohne Brechung ausgeführt sind.162) Werkstatt­zusammenhänge lassen sich innerhalb dieser Gruppe aber nur für die beiden aus Heilig Kreuz stammenden, auf gleichgestalteten querrechteckigen Steintafeln erhaben ausgeführten Grab­schriften für Dietrich Digni (Nr. 100 mit Abb. 60) und Aschwin von Barum (Nr. 107) feststellen. Die eingehauenen Bauinschriften an der St. Andreaskirche von 1389 und 1415, die auch beide erst im Jahr 1415 entstanden sein können, sind durch nach oben verlängerte und nach links abgeknickte Hasten bei v und w charakterisiert (Nr. 105 u. Nr. 135 mit Abb. 61 u. 62), was man neben den zum Teil stumpf endenden u auch in den erhabenen Inschriften der Figuren vom nordwestlichen Portal des Doms aus der Zeit vor 1429 wiederfindet (Nr. 145 mit Abb. 75).163) Auch in den späten Minuskelschriften des 16. Jahrhunderts endet bisweilen der rechte Schaft des u oben abgeschrägt oder stumpf, jedenfalls ohne Brechung.164) In manchen dieser späten Beispiele sind über­haupt die Brechungen nicht mehr konsequent durchgeführt worden (vgl. z. B. Nr. 343 mit Abb. 130). Die übrigen Inschriften entsprechen dem für diese Schriftart typischen Formenreper­toire und der üblichen Gestaltung.165) Die Verwendung von Versalien bietet in Hildesheim keine Anhaltspunkte für eine bestandsinterne Datierung, da bereits die frühen gotischen Minuskeln des 14. Jahrhunderts Versalien aufweisen, während in den späteren oft auf dieses Mittel der Schriftgestaltung verzichtet wird.166) Im frühesten Beispiel (Nr. 100 mit Abb. 60) ist lediglich das M der Jahreszahl als Versal – wenn auch noch vollständig im Mittelband – ausgeführt, während in der nur vier Jahre später ent­standenen Grabinschrift des Burchard von Steinberg bereits mehrere Versalien (Nr. 103) eingesetzt werden. Die oft aus verschiedenen Alphabeten importierten Versalien der späten gotischen Minuskelschriften verleihen manchen Inschriften einen ausgeprägt ornamentalen Charakter (vgl. z. B. Nr. 400 mit Abb. 135).

Die frühesten gotischen Minuskeln auf Metall (Goldschmiedearbeiten und gegossene Grab­platten) finden sich auf dem Abendmahlsgerät der Hildesheimer Kartause, das Bischof Gerhard zwischen 1388 und 1398 gestiftet hat (Nr. 108). Während die auf dem Kelch angebrachte Inschrift eingraviert und durch Versalien der gotischen Majuskel mit Binnenschraffur und feinen Zier­linien gestaltet ist, sind die Buchstaben der Patene in der für die Goldschmiedearbeiten des späten Mittelalters typischen konturierten Form graviert.167) Ihre Buchstabenkörper heben sich glatt vor einem schraffierten Hintergrund ab,168) die Balken von t und x, in anderen Inschriften auch der untere Bogenansatz des p, sind durch die Haste gesteckt und vermitteln einen ansatzweise drei­dimensionalen Schrifteindruck.169) Die Kontur der senkrechten Buchstabenteile trägt oft kleine Zacken (z. B. Nr. 110 mit Abb. 66f.). Einzelne Buchstaben sind mit Zierstrichen oder Anschwün­gen versehen. Der Balken des e ist auf einen oft geschwungenen Zierstrich reduziert. Variantenreich gestaltete Worttrenner und gegabelte Enden der Oberlängen, die oft geringfügig über das Schrift­band hinausragen, unterstreichen den ornamentalen Charakter dieser Schriften. Besonders gestaltet ist eine als einziger Schmuck auf einem Ziborium angebrachte Inschrift (Nr. 165), die in der übli­chen Form glatt erhaben vor schraffiertem Hintergrund ausgeführt ist, deren zum Quadrangel reduzierte Brechungen aber optisch vor die Haste gelegt sind und zusätzlich durch Schattenschraf­fur betont werden. Eine ähnliche bandförmige Gestaltung der Minuskel zeigt auch eine der Inschriften auf dem Bernward-Pedum (Nr. 218C). Aus den konturierten, glatt vor bear­beitetem Hintergrund ausgeführten Inschriften der gegossenen Grabplatten ragen u. a. die für zwei Angehö­rige der Familie von Hanensee angefertigten Inschriften durch ihre ästhetische Qualität hervor. Die ältere verwendet in variantenreicher Form i-Punkte und zeichnet sich durch Zierstriche und Blätt­chenverzierung aus (Nr. 126 mit Abb. 96), während auf der jüngeren die Buchstaben mit gespalte­nen, an den Enden eingerollten oder mit Blättchen verzierten Oberlängen gestaltet sind (Nr. 174 [Druckseite 68] mit Abb. 97). Von vergleichbar hoher Qualität ist auch die mit Versalien aus verschiedenen Alpha­beten und drei verschiedenen a-Formen ausgeführte gestreckte gotische Minuskel auf der Grab­platte für Dietrich von Alten (Nr. 262 mit Abb. 99). Bei den Inschriften der Goldschmiedearbeiten ist die Technik der konturiert ausgeführten glatten Buchstabenkörper im Hildesheimer Bestand nur bis in die Anfänge des 16. Jahrhunderts nachzuweisen. In der Folgezeit haben die Goldschmiede nur noch dünnstrichige Inschriften (z. B. Nr. 263 mit Abb. 92, Nr. 290 mit Abb. 107) graviert.

7. 6. Fraktur und humanistische Minuskel

Charakteristisch für die epigraphische Ausprägung der Fraktur sind Schwellzüge und Schwell­schäfte sowie die spitzovale Form der geschlossenen Bögen. Die Schäfte von f und langem s reichen bis unter die Grundlinie, die Oberlängen sind meist gespalten oder laufen in Zierlinien aus. a ist in den Hildesheimer Beispielen immer einstöckig ausgeführt. Die Fraktur wurde zum ersten Mal auf einem nicht am Ort entstandenen Kupferbild mit dem Porträt Martin Luthers verwendet (Nr. 365 mit Abb. 133). Der früheste autochthone Beleg stammt von einer Glasscheibe aus dem Jahr 1561 (Nr. 393). Das zentrale Corpus der Hildesheimer Frakturinschriften bilden die sowohl in Holz als auch in Stein ausgeführten Beispiele aus der Werkstatt der Bildhauerfamilie Wolf (vgl. S. 65). Kennzeichen der Wolfschen Frakturschriften sind die zum Dorn reduzierten kleinen Anstriche an den Hasten von b, l und h sowie die aufwendige Gestaltung der Versalien (Nr. 437 mit Abb. 137 u. Nr. 445 mit Abb. 138). Die Unterlänge des g hat in den Hildesheimer Inschriften durchgehend die geschwungene Form, während in den von Ewert Wolf d. J. stammenden Braunschweiger Inschrif­ten die Unterlänge des g in eingerollter Form ausgeführt worden ist.170) Möglicherweise deutet dieser Unterschied darauf hin, daß die Hildesheimer Beispiele Ewert Wolf d. Ä. zuzuschrei­ben sind. Zwei Inschriften aus der Zeit um 1625 lassen ebenfalls Werk­stattzusammenhänge erken­nen: Die Grabinschrift für Katharina Mebesius (Nr. 663) von 1624 weist dieselben Schrift­charakteristika auf wie die Fraktur auf dem Grabdenkmal des 1615 verstorbenen Hans Wildefüer (Nr. 666 mit Abb. 157). Vor allem die verbundenen und nach oben spitz ausgezo­genen oberen Bogenenden bei Doppel-f (Nr. 663) bzw. Doppel-Schaft-s (Nr. 666) und die Ausführung des Datums in Kapitalis weisen auf denselben Meister. Seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts sind einzelne Beispiele für schrägliegende Fraktur überliefert (Nr. 521 mit Abb. 167, Nr. 553 mit Abb. 161).

Die humanistische Minuskel kennzeichnen runde Bögen und ohne Brechung endende Schäfte, f und Schaft-s sowie h enden in der Regel auf der Grundlinie (Ausnahme Nr. 585 mit Abb. 174), d wird mit senkrechtem Schaft ausgeführt. Diese Schriftform wird in Hildesheim seit dem Ende des 16. Jahrhunderts überwiegend in gemalten Inschriften verwendet171) und tritt oft in Kombination mit einzelnen Wörtern in Kapitalis oder Versalien dieses Schrifttyps auf. Vereinzelt sind wie bei der Fraktur auch schrägliegende Formen belegt (Nr. 699 u. Nr. 757). Als typisch humanistische Schrift­form wird sie für die gelehrten Hausinschriftenprogramme aus der Zeit um 1600 verwendet (Nr. 598 mit Abb. 170, Nr. 585 mit Abb. 174), wobei in einem Fall (Nr. 598) die Schriftform der gedruckten Vorlage exakt in die Inschrift übernommen wurde.

Zitationshinweis:

DI 58, Stadt Hildesheim, Einleitung, 7. Schriftformen (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di058g010e006.

  1. Zu den Möglichkeiten und Grenzen der schriftgeschichtlichen Auswertung einzelner Inschriftenbestände maßgeb­lich DI 29 (Worms), S. LVILVIII»
  2. Vgl. z. B. den Kommentar zu Nr. 44. »
  3. Grundlegend für das Folgende: DI 29 (Worms), S. LVIIILXII; Walter Koch: Auf dem Wege zur Gotischen Majuskel. Anmerkungen zur epigraphischen Schrift in romanischer Zeit. In: Inschrift und Material. Inschrift und Buchschrift. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik Ingolstadt 1977, hg. von Walter Koch und Christine Steininger. München 1999 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse NF 117), S. 225–247, Zitat S. 226. »
  4. Vgl. Deutsche Inschriften. Terminologie (wie Anm. 1), S. 28. »
  5. Vgl. Clemens M. M. Bayer: Versuch über die Gestaltung epigraphischer Schriften mit besonderem Bezug auf Materialien und Herstellungstechniken. In: Inschrift und Material (wie Anm. 122), S. 95–125, hier S. 104f., Zitat S. 105. »
  6. Vgl. Koch (wie Anm. 122), S. 240. »
  7. Die Höhe-Breite-Verhältnisse der Buchstaben in den Hildesheimer Inschriften vor 1079 hat Wilhelm Berges zu einer Übersicht zusammengestellt, vgl. Berges/Rieckenberg, S. 17. Berges’ Überlegungen, die Proportionsziffern als objektivierbaren Anhaltspunkt für die Entwicklung von den Schriften der Bernwardzeit hin zur romanischen Majuskel der Amtszeit Bischof Hezilos zu benutzen, wird hier nicht weiter verfolgt, da die Bestimmung der Proportionsziffer nur einen einzigen der vielfältigen Entwicklungsaspekte innerhalb der romanischen Majuskel­schriften herausgreift und sich die Sammlung von Merkmalen aus verschiedenen paläographischen Gesichts­punkten als dem Sachverhalt adäquater erwiesen hat, vgl. Koch (wie Anm. 122), S. 231. »
  8. Die drei früheren Inschriften sind sicher (Nr. 1 u. 2) oder wahrscheinlich (Nr. 3) nicht in Hildesheim entstan­den. »
  9. Vgl. z. B. Nr. 4 mit Abb. 7f., Nr. 9 mit Abb. 12f., Nr. 13 mit Abb. 16, Nr. 14 mit Abb. 9 u. Nr. 16 mit Abb. 14. »
  10. Vgl. Nr. 4 mit Abb. 7f., Nr. 6 mit Abb. 10, Nr. 9 mit Abb. 12f., Nr. 11 mit Abb. 18f., Nr. 13 mit Abb. 16 u. Nr. 14 mit Abb. 9. »
  11. Vgl. Nr. 4 mit Abb. 7f., Nr. 11 mit Abb. 18f. u. Nr. 12 mit Abb. 17. »
  12. Vgl. Nr. 6 mit Abb. 10, Nr. 11 mit Abb. 18f., Nr. 12 mit Abb. 17, Nr. 13 mit Abb. 16, Nr. 14 mit Abb. 9 u. Nr. 16 mit Abb. 14. »
  13. Vgl. Nr. 23 mit Abb. 22, Nr. 28 mit Abb. 26 u. Nr. 30 mit Abb. 27. »
  14. Vgl. Nr. 4 mit Abb. 7f. u. Nr. 5 mit Abb. 11. »
  15. Vgl. Nr. 13 mit Abb. 16 u. Nr. 34 mit Abb. 30f. »
  16. Vgl. Nr. 27 mit Abb. 20, Nr. 29, Nr. 30 mit Abb. 27. »
  17. Vgl. Nr. 14 mit Abb. 9, Nr. 23 mit Abb. 22, Nr. 25 mit Abb. 24f. u. Nr. 28 mit Abb. 26. »
  18. Vgl. Nr. 38 mit Abb. 39 u. Nr. 40 mit Abb. 35f. »
  19. Vgl. Nr. 40f. mit Abb. 35–38, Nr. 46 mit Abb. 44 u. Nr. 59 mit Abb. 42. »
  20. DI 2 (Mainz), Nr. 5. »
  21. Vgl. Nr. 11 mit Abb. 18f., Nr. 12 mit Abb. 17, Nr. 25 mit Abb. 24f., Nr. 38 mit Abb. 39, Nr. 48 u. Nr. 52»
  22. Vgl. Nr. 14 u. Nr. 161f. »
  23. Vgl. Nr. 63, Nr. 64 mit Abb. 47f., Nr. 67 mit Abb. 49f., Nr. 69 mit Abb. 53 u. Nr. 70 mit Abb. 52. »
  24. Vgl. Nr. 68, Nr. 69 mit Abb. 53, Nr. 70 mit Abb. 52, Nr. 76 mit Abb. 70, Nr. 88 mit Abb. 56, Nr. 99 mit Abb. 58 u. Nr. 125»
  25. Vgl. z. B. Nr. 77 mit Abb. 181, Nr. 78, 96, 97 mit Abb. 180 u. Nr. 99 mit Abb. 58. »
  26. Vgl. z. B. Nr. 70 mit Abb. 52 u. Nr. 88 mit Abb. 56. »
  27. Vgl. Nr. 67 mit Abb. 49f., Nr. 68, Nr. 70 mit Abb. 52, Nr. 71 u. Nr. 97 mit Abb. 180. »
  28. Vgl. Nr. 68, Nr. 96 u. Nr. 97 mit Abb. 180. »
  29. Vgl. Nr. 68, Nr. 94 mit Abb. 111 u. Nr. 97 mit Abb. 180. »
  30. Eine ausführliche Charakterisierung dieser Schriftart geben die Grundsatzreferate von Renate Neumüllers-Klauser (Epigraphische Schriften zwischen Mittelalter und Neuzeit), Martin Steinmann (Überlegungen zu „Epigraphische Schriften zwischen Mittelalter und Neuzeit“) und Rüdiger Fuchs (Übergangsschriften) in: Walter Koch (Hg.): Epigraphik 1988. Fachtagung für Mittel­alterliche und Neuzeitliche Epigraphik Graz, 10.–14. Mai 1988. Wien 1990 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften 213. Band), S. 315–348; s. a. DI 48 (Wiener Neustadt), S. XLVI–XLVIII. »
  31. Das „byzantinische M“ hat die Form eines kapitalen H mit einem an den Balken angehängten Mittelschaft. »
  32. Zur bevorzugten Verwendung der frühhumanistischen Kapitalis für Inschriften auf Tafelmalerei und gefaßten Holzoberflächen vgl. u. a. DI 34 (Bad Kreuznach), S. XLVII und DI 41 (Göppingen), S. LII»
  33. In Nr. 276 (Tafelmalerei aus der Hildesheimer Kartause, heute in Diekholzen-Barienrode) schmückt eine Folge von Buchstaben, die keinen Sinn ergeben, das Zaumzeug eines Pferdes. »
  34. Zu den Inschriften auf Gewandsäumen, speziell zu den im Verdacht einer Geheimschrift stehenden sinnlosen Buchstabenfolgen, vgl. Werner Arnold: Gemälde-Inschriften. In: Pantheon 34 (1976), S. 116–120. »
  35. Ein früheres Beispiel für die Verwendung der Kapitalis auf dem Wappenstein des Tilo Brandis von 1491 (Nr. 207) bleibt aufgrund des geringen Buchstabenbestands außer acht. »
  36. Vgl. Nr. 428 mit Abb. 139, Nr. 432, Nr. 467 mit Abb. 142–145, Ausnahme Nr. 379 mit Abb. 127. »
  37. Vgl. DI 42 (Einbeck), S. XXVI und Nr. 92, 96–98; vgl. DI 56 (Stadt Braunschweig II), S. XXXIX»
  38. Vgl. z. B. Nr. 595 mit Abb. 153, Nr. 688, Nr. 694, Nr. 722, Nr. 725 u. Nr. 765»
  39. Vgl. Nr. 284, Nr. 578 mit Abb. 171, Nr. 622, Nr. 644, Nr. 647 mit Abb. 160, Nr. 658, Nr. 659, Nr. 661A, Nr. 665, Nr. 673, Nr. 692, Nr. 696 u. Nr. 777»
  40. Vgl. DI 36 (Stadt Hannover), S. XXIX»
  41. Vgl. z. B DI 28 (Stadt Hameln): 1372; DI 35 (Stadt Braunschweig I): 1358; DI 36 (Hannover): 1350; DI 42 (Einbeck): 1416; DI 45 (Stadt Goslar): 1314?. »
  42. Vgl. z. B. Nr. 337 mit Abb. 128 u. Nr. 426 mit Abb. 134. »
  43. Vgl. z. B. Nr. 100 mit Abb. 60, Nr. 104, Nr. 106 mit Abb. 59, Nr. 107, Nr. 134, Nr. 144 mit Abb. 73 u. Nr. 145»
  44. Verlängerte und nach links abgeknickte Hasten an v und w werden im Hildesheimer Bestand erst wieder in den gotischen Minuskeln vom Anfang des 16. Jahrhunderts verwendet (Nr. 300 u. 309 als Versal). »
  45. Vgl. z. B. Nr. 337 mit Abb. 128, Nr. 339 mit Abb. 131 u. Nr. 353 mit Abb. 124. »
  46. Sonderformen einzelner Buchstaben s. Register 10 s. v. „paläographische Besonderheiten“. »
  47. Vgl. z. B. Nr. 192, Nr. 290 mit Abb. 107 u. Nr. 263 mit Abb. 92. »
  48. Vgl. DI 45 (Minden), S. XXVI»
  49. Vgl. auch Nr. 47C mit Abb. 41. »
  50. Vgl. z. B. Nr. 108, Nr. 110 mit Abb. 66f., Nr. 126 mit Abb. 96 u. Nr. 131 mit Abb. 65. »
  51. Vgl. DI 56 (Stadt Braunschweig II), S. XXXIX»
  52. Vgl. Nr. 314, Nr. 496 mit Abb. 156, Nr. 660, Nr. 756 mit Abb. 162, Nr. 757 u. Nr. 762»