Die Inschriften der Stadt Goslar

4. Schriftformen

4.1. Mittelalterliche Majuskelschriften

Aus der Zeit der mittelalterlichen Majuskelschriften bis etwa 1400 hat sich nur ein geringer und qualitativ wenig repräsentativer Bruchteil der ehemals in Goslar vorhandenen Inschriftenträger erhalten. In besonderem Maß gilt dies für bewegliche kirchliche Ausstattungsstücke, also Goldschmiedearbeiten, Altarretabel und Textilien. In die Zeit vor 1400 sind heute nur noch 24 Inschriftenträger zu datieren, von denen 22 Majuskelinschriften tragen132). Neben zwölf steinernen sind hier folgende Inschriftenträger zu verzeichnen: drei Glocken (Nr. 5, 16, 26), Wandmalereien (Nr. 6, 7, 13), Glasfenster (Nr. 9) sowie schließlich drei Gegenstände aus Bronze oder Silber (Nr. 19, 22, 25)133). Lediglich bei sechs in Stein ausgeführten134) und vier auf anderen Materialien angebrachten Inschriften135) sind schriftgeschichtliche Beobachtungen nicht von vornherein wegen ihres mangelhaften Erhaltungszustands oder einer zu geringen Buchstabenzahl ausgeschlossen. Weiter eingeschränkt werden die Auswertungsmöglichkeiten dadurch, daß nur drei dieser zehn Stücke genau datiert sind (Nr. 21, 23) oder relativ sicher in einen engeren Entstehungszeitraum eingeordnet werden können (Nr. 22). Die nur punktuelle Überlieferung von Inschriften vor 1400 hat zur Folge, daß aus Goslar stammende, datierte Vergleichsstücke fehlen. Außerdem liegen kaum längere Textinschriften mit einem repräsentativen Buchstabenbestand vor136). Da sich schließlich viele steinerne Inschriftenträger nicht mehr an ihrem ursprünglichen Standort befinden, entfällt auch die Möglichkeit ihrer bauhistorischen Einordnung.

Dieser Befund hat insgesamt zur Folge, daß zum einen die Inschriften nicht mit Hilfe einer relativen Chronologie datiert werden können und zum anderen keine stringente Darstellung der Schriftgeschichte möglich ist. Für die im folgenden zusammengestellten Beobachtungen werden daher nur einzelne und – wenn möglich – relativ sicher datierte Inschriften herangezogen.

4.1.1. Kapitalis und romanische Majuskel

Die älteste in Goslar erhaltene Inschrift aus dem 11. Jahrhundert (Nr. 1) ist in einer regelmäßigen, in schmaler Kerbe eingehauenen Kapitalis ausgeführt, die deutlich schlanke Proportionen zeigt; lediglich durch das nahezu kreisrunde C wird dieses Gestaltungsprinzip durchbrochen.

Die romanische Majuskel nimmt ihren Ausgang von einem Kapitalisalphabet, in das eckige und runde (unziale und andere) Buchstabenformen aufgenommen werden. Die Anzahl solcher Formen ebenso wie die Flächigkeit der Buchstabenkörper nimmt im Verlauf der Schriftentwicklung zu. Drei Goslarer Lapidarinschriften sind in romanischer Majuskel ausgeführt (Nr. 2, 3, 8), wobei ihr geringer Umfang keine repräsentativen Aussagen über den Anteil runder Buchstabenformen erlaubt. In Form von Dreiecken an den Hastenenden ansetzende, kurze Sporen zeigt eine wohl in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandene Meisterinschrift (Nr. 2). Die zweite Inschrift an der Vorhalle von St. Simon und Judas (Nr. 3) weist dagegen leichte Hastenverbreiterungen und Bogenverstärkungen auf. Nur in geringen Ausmaßen sind diese Gestaltungselemente auf dem dritten Stück (Nr. 8) zu erkennen; auch fehlen Sporen und Abschlußstriche. Das mit verkürzter Haste gestaltete D, dessen Bogen sich der Kreisform annähert, deutet bereits auf die gotische Majuskel hin.

4.1.2. Gotische Majuskel

In Abgrenzung zur romanischen zeigt die gotische Majuskel deutlich keilförmig verbreiterte Hastenenden und Bogenschwellungen sowie eine Vielzahl runder Buchstabenformen. Verlängerte Sporen an Hasten- und Bogenenden führen bis zur völligen Abschließung von Buchstaben. Lediglich zwei genau datierte (Nr. 21, 23) und vier annähernd datierbare Inschriften (Nr. 9, 19, 22, 25) sind als Beispiele für die gotische Majuskel in Goslar nachzuweisen137).

Die gotische Majuskel ist in zwei Ausprägungen, einer eher breiten sowie einer deutlich höheren, schlankeren zu beobachten: Breite, nur in einzelnen Fällen geschlossene Buchstabenformen neben typischen Gestaltungselementen der entwickelten gotischen Majuskel finden sich bereits auf den um 1250 entstandenen Glasmalereien mit Szenen aus der Legende der Heiligen Cosmas und Damian in der Marktkirche (Nr. 9). Vergleichbare Proportionen zeigen eine Grabinschrift von 1320 (Nr. 21) und die zu Beginn des 14. Jahrhunderts angefertigte Goslarer Elle (Nr. 19). Eine Vielzahl geschlossener Buchstabenformen weist erst die während des ersten Drittels des 14. Jahrhunderts angefertigte Hostienpyxis aus der Neuwerkkirche (Nr. 22, A–F) auf, deren breite, nur gelegentlich spitz ausgeführte Bogenschwellungen gerade Innenkonturen erkennen lassen. Diese Hostienpyxis kann auch aufgrund ihres für die frühen Goslarer Inschriften seltenen Buchstabenreichtums als anschaulichstes Beispiel für die gotische Majuskel gelten.

In einer hohen und schlanken, dabei auffallend regelmäßigen Schriftvariante ist die 1334 eingehauene Grabinschrift für Bernhard von Dörnten (Nr. 23) gestaltet. Aufgrund spitz ausgezogener Bogen- und Hastenschwellungen und der Nodi des I unterscheidet sie sich von den übrigen in gotischer Majuskel gestalteten Lapidarinschriften. Eine ebenfalls schlanke Form der gotischen Majuskel zeigen auch die wohl in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eingravierten Tituli von Heiligenfiguren (Nr. 22, G), deren Buchstaben zudem in charakteristischer Weise gespaltene, zu eingerollten Sporen ausgezogene Hastenenden und ausgeprägt spitze Schwellungen aufweisen.

Einzelne Goslarer Inschriften wurden in ornamentalen Sonderformen der gotischen Majuskel gestaltet. Eine im 14. Jahrhundert entstandene Glockeninschrift (Nr. 26) zeigt eine aus ihrer speziellen Herstellungstechnik resultierende Gestaltung: Punkt- und Strichornamentik der flächigen Buchstabenkörper, Blattwerkverzierungen an Schwellungen und Buchstabenenden. Auch die wohl um 1500 angefertigte Bauinschrift am Teufelsturm (Nr. 52) nimmt in schriftgeschichtlicher Hinsicht eine Sonderstellung ein, da sich in der Stadt seit langem die gotische Minuskel etabliert hatte. Es wurden bewußt altertümliche Formen gewählt, um entweder die Schriftformen einer älteren Inschrift wiederzugeben oder um eine formale Entsprechung zu dem in der Inschrift genannten historisch-sagenhaften Ereignis zu bieten.

4.2. Gotische Minuskel

Die gotische Minuskel, die im wesentlichen dadurch charakterisiert wird, daß Buchstabenbögen in Hasten und Brechungen aufgelöst sind, läßt sich in Goslar möglicherweise zu einem bemerkenswert frühen Zeitpunkt nachweisen. Ein Vergleich mit anderen niedersächsischen Städten zeigt, daß dort in gotischer Minuskel ausgeführte Inschriften erst mehrere Jahrzehnte später zu belegen sind138). Bei dem ältesten Goslarer Beispiel handelt es sich um eine wohl 1314 gegossene Glocke der Neuwerkkirche (Nr. 20). Die in der gotischen Minuskel unüblichen breiten, gerundeten Buchstabenpro-portionen und -formen auf der Glocke geben allerdings Anlaß, an ihrer Entstehung im frühen 14. Jahrhundert zu zweifeln. Ob die Verwendung der gotischen Minuskel in diesem Fall den Schluß zuläßt, daß die Schriftart in der Stadt generell früh rezipiert wurde, ist nicht zu entscheiden, da die zeitlich nächstliegende Minuskelinschrift erst Ende des 14. Jahrhunderts entstand (Nr. 24). Ähnlich wie für die mittelalterlichen Majuskelschriften gilt somit auch für die frühe Entwicklungsphase der gotischen Minuskel bis etwa 1450, daß entsprechende Inschriftenträger in Goslar nur punktuell erhalten sind.

Die überwiegende Mehrheit der in gotischer Minuskel gestalteten Goslarer Inschriften ist dem 15. Jahrhundert und dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zuzuordnen139). Die in der Stadt gebräuchliche Form dieser Schriftart weist unabhängig von der Ausführungstechnik und der zeitlichen Einordnung Ober- und Unterlängen auf, die über das Mittelband hinausreichen; einzelne Buchstaben werden relativ breit gestaltet und deutlich voneinander abgesetzt. Diese Charakteristika zeigt der an das Ende des 14. Jahrhunderts datierte Kelch der Stephanikirche (Nr. 24). Das gleiche gilt für die um 1480 entstandenen Wandmalereien der Marktkirche (Nr. 34), deren Inschriften außerdem zahlreiche Ligaturen aufweisen, und die Ausmalung der Ratsstube (Nr. 59). Selbst die noch 1572 in gotischer Minuskel angefertigte Inschrift auf der Grabplatte für Jobst von Schwiecheldt (Nr. 93) ist solchermaßen gestaltet. Die zu dieser Zeit in Inschriften bereits unübliche Schriftart wurde sicher aus ornamentalen Gründen gewählt, wofür auch die schwungvoll ausgeführten, viel Raum einnehmenden Fraktur-Versalien sprechen.

Gotische Minuskeln mit ausgesprochenem Gittercharakter finden sich nur in zwei Ausnahmefällen. Die Inschrift der Tumbaplatte in der Neuwerkkirche (Nr. 45), die im 15. Jahrhundert angefertigt wurde, vermittelt trotz der vorhandenen, wenngleich relativ kurzen Ober- und Unterlängen den Eindruck, als seien schmale, einzeln stehende Hasten aneinandergereiht worden. Auf andere, ungewöhnliche Weise entsteht bei der Betrachtung einer 1512 oder 1513 angefertigten Steintafel (Nr. 62) der Eindruck einer kontinuierlich fortlaufenden, aus breiten Hasten und Quadrangeln zusammengesetzten Inschrift: Quadrangeln und Hastenenden werden hier (Buchstabe a) dornartig ausgezogen und berühren so die benachbarten Buchstaben.

Auch die Gestaltung von Inschriften mittels auffälliger Zierelemente beschränkt sich auf Einzelfälle. Eine Hausinschrift (Nr. 54, B1) zeigt einen am unteren Ende des oberen e-Bogens ansetzenden Zierhaken sowie im niederdeutschen Textteil gespaltene Hastenenden140). Spitz ausgezogene Quadrangelenden sowie Worttrenner in Form von runden Blüten und mehreren aufeinanderfolgenden, sechsstrahligen Sternen sind auf dem 1488 für das St. Annenhospital angefertigten Kelch (Nr. 37, A) zu sehen.

4.3. Frühhumanistische Kapitalis

Die frühhumanistische Kapitalis greift auf Buchstabenformen verschiedener Kapitalis-, Unzial- und Minuskelalphabete zurück und verbindet diese mit neugeschaffenen Formen zu einer besonders [Druckseite XXIX] dekorativen Schriftform. Sie fand in Goslar möglicherweise schon im späten 15. Jahrhundert, sicher seit dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, auf neun Inschriftenträgern Verwendung141), zuerst in der Ausmalung der Trinitatiskapelle (Nr. 58) und der Ratsstube (Nr. 59, C17 und C19). Beide Inschriften weisen folgende für die Schriftart typische Buchstabenformen auf: epsilonförmiges E, ein retrogrades, offenes unziales D (Nr. 59), offenes kapitales D, M mit schräggestellten Hasten und oberhalb der Mittellinie endendem Mittelteil sowie I mit Nodus (Nr. 58, A).

Die größte Anzahl ornamentaler Formen findet sich auf Schriftbändern zweier Fensterstürze142) (Nr. 70), nämlich byzantinisches M neben M mit schräggestellten Hasten, epsilonförmiges E, A mit gebrochenem Querbalken und nach links überstehendem Deckstrich, retrogrades N und I mit Nodus. In Inschrift A ist Q als eingerollter offener Bogen mit angesetzter Cauda ausgeführt. Diese für Goslar einzigartige Ausschmückung des Fenstersturzes mit der dafür gewählten Schriftart läßt auf Wohlstand und Repräsentationswillen des Erbauers schließen. Die aus einzelnen Buchstaben bestehenden Inschriften der 1520 in St. Simon und Judas aufgestellten Triumphkreuzgruppe (Nr. 72) und des etwa gleichzeitig entstandenen Wandteppichs mit Heiligendarstellungen (Nr. 74) sind Beispiele dafür, daß die frühhumanistische Kapitalis gern zur dekorativen Gestaltung von Gewandsäumen benutzt wurde, ohne daß dabei die Herstellung sinntragender Wörter beabsichtigt sein mußte143).

Der 1532 angefertigte Kelch der Stephanikirche (Nr. 80) bietet das späteste Beispiel für die Verwendung dieser Schriftart. Neben offenem kapitalen D finden sich trapezförmiges A mit rechts überstehendem Deckbalken, H mit ausgebuchtetem Querbalken und L mit einem langen Balkensporn.

4.5. Fraktur

Als allgemeine Charakteristika der Fraktur gelten gebogene oder geschwungene Schwellzüge und spitz auslaufende Schwellschäfte sowie die spitzovale Grundform von geschlossenen Bögen bei [Druckseite XXX] Buchstaben wie d und o. Die Hasten von Schaft-s und f reichen bis unter die Grundlinie, die Oberlängen enden nicht stumpf, sondern ausgezogen oder in Zierformen. Versalien können in Schwellzüge aufgelöst werden und die charakteristischen „Elefantenrüssel“ aufweisen, also s-förmige oder aus mehreren Schlingen bestehende Zierbögen. Wie für die späten Minuskelinschriften anderer niedersächsischer Städte gilt auch für diejenigen Goslars, daß eine Einordnung in die anhand des süddeutschen Materials aufgestellten und heute noch allgemein verwendeten Schriftbezeichnungen ‘gotische Minuskel’, ‘humanistische Minuskel’ oder ‘Fraktur’ oft nur bedingt möglich ist144). Die meist auf Schwellbalken ausgeführten Goslarer Frakturinschriften145) zeigen eher reduzierte Ausprägungen dieser Schriftart, die durch die Existenz von Schwellschäften, Schwellzügen und ausgezogenen Oberlängen sowie das Übergewicht spitzovaler und gerundeter Formen über gebrochene bestimmt sind.

Als Ausnahme von dieser Regel stellen sich bereits die Beischriften zu den 1561 aufgetragenen Malereien im Mönchehaus (Nr. 84) dar. Obwohl sie überfaßt sind, läßt ihr heutiges Erscheinungsbild den Schluß zu, daß in dieser frühesten Frakturinschrift Goslars ursprünglich alle Charakteristika der voll entwickelten Schriftart zur Anwendung kamen. Im einzelnen sind zahlreiche Schwellschäfte und Schwellzüge sowie spitze, unter die Grundlinie reichende Hastenenden zu sehen. Ob die doppelstöckigena in Inschrift C1 zum originalen Bestand gehören, ist nicht zu entscheiden.

Das mehr als fünfzig Jahre später gestaltete schmale Schriftband der Kanzel in der Jakobikirche (Nr. 154), das kaum Raum für die Ausführung von Ober- und Unterlängen bietet, weist neben d und o in spitzovaler Form verschiedene ornamentale Varianten von r und s auf. Ähnlich wie das Schriftband der Kanzel boten Schwellbalken von Häusern unterhalb der gedachten Grundlinie oft nicht viel Raum für die Gestaltung von Unterlängen. Dies gilt bereits für die älteste datierte Frakturinschrift am Haus Peterstr. 29 (Nr. 89); die Schwellzüge von a und w und die schlingenförmigen Verzierungen der Versalien sind hier besonders ausgeprägt. In der Regel sind die bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstandenen Hausinschriften jedoch mit nur wenigen Schwellzügen und schwellzugähnlichen Bögen vor allem an v und w gestaltet (vgl. etwa Nr. 127). Eine Frakturform ganz ohne Schwellzüge, aber mit deutlichen Schwellschäften und runden Formen146) zeigt das im späten 16. Jahrhundert umgebaute Haus Marktstr. 26 (Nr. 110). Ähnliche Charakteristika weist der 1577 gestaltete Schwellbalken am Haus Glockengießerstr. 2 (Nr. 98, C) auf: Schwellzüge fehlen mit Ausnahme des runden s, Schwellschäfte sind lediglich angedeutet; es finden sich nur wenige Buchstabenbrechungen.

Manieriert wirkende, eigenwillige Frakturformen wurden in Goslar in nennenswertem Ausmaß offenbar erst gegen Mitte des 17. Jahrhunderts möglich. Weiterhin bevorzugte man jedoch einfachere Frakturinschriften147). An der Rückseite eines Schwiecheldtschen Hauses wurden wohl in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts zwei Frakturinschriften angebracht (Nr. 102, C und D). Auf beiden in unterschiedlichen Schriftvarianten gestalteten Schwellbalken sind gebrochene Buchstabenformen wie z. B. in Inschrift D sechskantiges o zu sehen. Buchstabenbögen sind besonders ausladend gestaltet. Ähnliche Schmuckformen finden sich in einer weiteren, um 1650 entstandenen Inschrift am Haus Frankenberger Str. 23 (Nr. 179). Dort stehen bewußt schmal und mit Brechungen gestaltete Buchstaben neben bauchig ausladenden, schlingenreichen Versalien; die üblicherweise das Mittelband ausfüllenden Teile von g und h sind so verkürzt, daß die Buchstaben oberhalb der Grundlinie stehen148).

4.6. Mischschriften aus gotischer Minuskel und Fraktur

Bevor sich in Goslar reduzierte Formen der Frakturschrift durchsetzten, wurden für Hausinschriften des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts häufig Schriftformen verwendet, die Elemente verschiedener Schriftarten aufweisen. Dabei ist entweder eine Hauptschriftart mit einigen wenigen Elementen einer weiteren Minuskelschriftart zu erkennen (etwa ‘gotische Minuskel mit einzelnen Elementen der Fraktur’, ‘Fraktur mit einzelnen Elementen der gotischen Minuskel’), oder es finden sich auch in einem einzelnen Buchstaben annähernd gleichwertig Charakteristika zweier Schrifttypen, so daß die charakteristischen Elemente der zugrundeliegenden Schriftformen nicht mehr nebeneinander stehen, sondern miteinander verschmelzen und je nach Mischungsverhältnis gewissermaßen eine eigene Schriftart konstituieren (Mischschriften aus gotischer Minuskel und Fraktur). Die dabei ablaufende Entwicklung ist durch die folgenden, immer häufiger zu beobachtenden Erscheinungen charakterisiert: nach rechts spitz ausgezogene, gebogene Oberlängenenden etwa bei b, h, und l, einstöckiges a, Schwellschäfte und vorerst nur gelegentlich verwendete Schwellzüge sowie schließlich die Zunahme spitzovaler oder annähernd runder Bogenformen (statt der aus Hastenbrechungen hervorgegangenen Buchstabenbestandteile bei der gotischen Minuskel). Die Quadrangeln der gotischen Minuskel wirken noch längere Zeit in abgeschwächter, d. h. gerundeter Form nach. Aus Platzgründen fehlen häufig die Unterlängen von f und Schaft-s. Diese einzelnen Komponenten sind frei kombinierbar, treten also nicht nur in bestimmten Zusammenstellungen auf. Zudem findet sich an nicht wenigen Häusern mehr als eine Mischschrift-Form. Bei der Benennung von Mischschriften ergeben sich somit oft Grenzfälle, die eine eindeutige, zweifelsfreie Unterscheidung etwa zwischen ‘gotischer Minuskel mit einzelnen Elementen der Fraktur’ und ‘Mischschrift aus gotischer Minuskel und Fraktur’ oder der zuletzt genannten Schriftart und der Benennung ‘Fraktur mit einzelnen Elementen der gotischen Minuskel’ unmöglich machen. Stellvertretend für viele belegbare Mischformen sei kurz auf die Inschriften eines Hauses hingewiesen: Die innerhalb weniger Jahre auf den Schwellbalken des Hauses Glockengießerstr. 2 (Nr. 98) angebrachten Inschriften fallen auf, weil sie sowohl in gotischer Minuskel (B), in gotischer Minuskel mit einzelnen Elementen der Fraktur (A) und in Fraktur (C) ausgeführt sind. Inschrift A von 1573 weist Frakturmerkmale wie einstöckiges a, spitz endende, nach rechts gebogene Hastenenden sowie einzelne runde Buchstabenelemente bei d, p und brezelförmigem s auf. Während in dieser Inschrift gebrochene Formen noch dominieren, zeigt die 1577 angebrachte Inschrift C zwar eine Vielzahl gerundeter Buchstaben, aber keinerlei Schwellzüge; die Schwellschäfte des Schaft-s sind nur angedeutet.

Zitationshinweis:

DI 45, Stadt Goslar, Einleitung, 4. Schriftformen (Christine Magin), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di045g008e008.

  1. Zwei vor 1400 entstandene Inschriften sind in gotischer Minuskel ausgeführt, Nr. 20 und Nr. 24»
  2. Auf der vor 1331 angefertigten Hostienpyxis aus der Neuwerkkirche (Nr. 22, A–F) wurden noch während des 14. Jahrhunderts nachträglich Heiligenfiguren mit Namenbeischriften und einem Kreuzestitulus (G, H) angebracht. Diese sind zwar heute nicht mehr an der Pyxis, sondern an einem modernen Ciborium befestigt, werden aber mit den Pyxisinschriften unter einer Katalognummer behandelt. »
  3. Nr. 13, 8, 21, 23. Folgende steinerne Inschriftenträger sind aufgrund ihres mangelhaften Erhaltungszustands zu vernachlässigen: Nr. 4, 10, 11, 14, 15.  »
  4. Nr. 9, 19, 22, 25. Folgende Inschriftenträger sind aufgrund ihres Erhaltungszustands oder ihrer mangelhaften Ausführung zu vernachlässigen: Nr. 6, 7, 13, 16»
  5. Als Ausnahme können die Inschriften der bereits erwähnten Hostienpyxis (Nr. 22) gelten. »
  6. Folgende Inschriftenträger sind aufgrund ihres mangelhaften Erhaltungszustands zu vernachlässigen: Nr. 6, 7, 10, 11, 1315»
  7. In Niedersachsen sind in gotischer Minuskel ausgeführte Inschriften vor der Mitte des 14. Jahrhunderts nur vereinzelt nachweisbar; vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 5 (1342); Glocke in Hildesheim (1350; Auskunft Dr. Christine Wulf, Inschriftenkommission Göttingen, vgl. demnächst DI Hildesheim), DI 35 (Stadt Braunschweig 1), Nr. 42 (Mitte 14. Jahrhundert). Zum Vordringen der gotischen Minuskel allgemein vgl. Renate Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache in Bau- und Künstlerinschriften, in: Deutsche Inschriften. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik, Lüneburg 1984, hg. von Karl Stackmann (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Kl., 3. Folge, Nr. 151), Göttingen 1986, S. 62–81, hier Karte 4, S. 65. »
  8. Für diesen Umstand ist möglicherweise auch die Überlieferungslücke im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts verantwortlich. Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts finden sich nur noch einzelne in gotischer Minuskel gestaltete Inschriften: Nr. 54 (B2, D), Nr. 93, 96»
  9. Diese Zierform wurde von den 1557 angebrachten Inschriften (B2, D) beibehalten. »
  10. Nr. 36, 58, 59 (C17, C19), 68, 70, 72, 74, 78, 80.  »
  11. Auf Goldschmiedearbeiten läßt sich die frühhumanistische Kapitalis zweimal nachweisen. In beiden Fällen handelt es sich um schriftgeschichtlich wenig aussagekräftige, kurze Kelchinschriften (Nr. 36, 78). »
  12. Zu Gewandsauminschriften allgemein vgl. Kloos, S. 45–48. »
  13. Zur Reinform der Fraktur vgl. DI 13 (Nürnberg: St. Johannis, St. Rochus u. Wöhrd), S. XXI–XXIII. Zu den norddeutschen Schriftformen vgl. DI 36 (Stadt Hannover), S. XXVIIIf; DI 26 (Stadt Osnabrück), S. XXIX»
  14. Bei den Ausnahmen handelt es sich um Malereien auf Holz (Nr. 154) und überfaßte Malereien auf Putz (Nr. 84). Die Fragmente in der Jakobikirche (Nr. 115) und im Hospital Zum Großen Heiligen Kreuz (Nr. 125) sind in schriftgeschichtlicher Hinsicht bedeutungslos. Goslarer Frakturinschriften in Stein sind nicht überliefert; vgl. dagegen DI 42 (Einbeck), Nr. 92, 9698. Auch in Braunschweig und Hildesheim sind Lapidarinschriften in Fraktur zu finden (Auskunft Dr. Sabine Wehking, Dr. Christine Wulf, beide Inschriftenkommission Göttingen). »
  15. Diese Beobachtung gilt hier wie in den im folgenden beschriebenen Fällen nur für die Gemeinen. »
  16. So läßt der Vergleich zweier sorgfältig bearbeiteter Balken aus den Jahren 1614 (Nr. 147) und 1646 (Nr. 168) kaum Unterschiede in der Schriftgestaltung erkennen. »