Die Inschriften der Stadt Braunschweig von 1529 bis 1671

Gesammelt und bearbeitet von Sabine Wehking

4. Schriftformen

Schriftgeschichtlich bietet der Bestand der Braunschweiger Inschriften ab 1529 kaum Relevantes, zum einen aufgrund des hohen Anteils an kopial überlieferten Inschriften, zum anderen weil der überwiegende Teil der in Kapitalis oder Fraktur ausgeführten erhaltenen Inschriften gemalt ist. Anders als bei den Inschriften in Holz, Stein oder in Metall ist hier mit einer Verfälschung des ursprünglichen Schriftcharakters durch Überarbeitungen zu rechnen, so daß beispielsweise die in Fraktur gemalten Inschriften der Holzepitaphien über die bloße Schriftbestimmung hinaus wenig Aussagen zulassen.

Als Nachtrag zum ersten Braunschweiger Inschriftenband ist hier auf die in Stein gehauenen Inschriften der Graffiti im Dom in gotischer Majuskel und in gotischer Minuskel aus der Zeit um 1400 hinzuweisen (A3 Nr. 57A), bei denen es sich zum großen Teil um professionell ausgeführte Inschriften handelt. Die Inschrift eines Kelchs aus dem Jahr 1453 (A3 Nr. 136) ist in der auf Goldschmiedearbeiten häufig zu findenden gotischen Minuskel mit glatten breit ausgeführten Buchstaben vor schraffiertem Hintergrund ausgeführt; durch die auffällig große Ausführung der Buchstaben bedeckt die zweizeilig umlaufende Inschrift den gesamten Kelchfuß und wird damit zum vorherrschenden Schmuckelement. Ebenfalls nachzutragen ist die in gotischer Minuskel mit Versalien gravierte Inschrift einer Kupfertafel (A3 Nr. 269A), die in den Grundstein der Maria Magdalenen-Kapelle von 1499 eingelassen ist. Die zwischen vorgravierten Linien ausgeführte gotische Minuskel zeichnet sich durch gegabelte Ober- und Unterlängen und Verzierungen in Form von Schleifen und Zierhäkchen aus. Besonders kunstvoll ist der Buchstabe e gestaltet, bei dem an den abgeknickten oberen Bogenabschnitt eine Schleife angesetzt ist, die fast bis zur Grundlinie reicht und wieder bis zum oberen Bogenabschnitt zurückgeführt ist. Beim a ist der linke Teil des gebrochenen oberen Bogens zu einem geschwungenen Zierstrich reduziert, der zwischen den senkrechten Teilen der gebrochenen Bögen bis fast auf die Grundlinie geführt ist. Die Fahne des r besteht aus einem Quadrangel mit unten angesetztem Zierstrich. Die Versalien sind mit schlingen- und schleifenförmigen Verzierungen versehen. Zwei der J-Versalien weisen Dornen als Zierformen auf, in einem Fall am Schaft, im anderen an dem den Schaft begleitenden Zierstrich; der Schaft des letztgenannten Versals endet in einer Doppelschlinge.

Noch einmal ausführlicher behandelt werden soll hier die spezielle Ausführung der gotischen Minuskel in den Hausinschriften, da in der Einleitung zum ersten Band der Braunschweiger Inschriften der unzutreffende Eindruck entsteht, als handle es sich hierbei generell um die gitterartige Variante der frühen gotischen Minuskel, die lediglich durch Versalien aufgelockert wird. Dies trifft jedoch schon deshalb nur auf wenige Fälle zu, weil die aus kurzen Bauinschriften bestehenden Inschriften dieser Zeit zumeist in einzelnen Gruppen von zwei bis vier Buchstaben quer über die gesamte Breite der mit einem Treppenfries oder mit Laubstab verzierten Schwellbalken verteilt sind. Charakteristisch für die gotische Minuskel der frühen Hausinschriften des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts ist vielmehr das Bemühen der Zimmerleute oder Bildhauer, jedem einzelnen Buchstaben durch plastische Gestaltung einen besonderen Schmuckcharakter zu verleihen – in der Kombination mit dem Laubstabornament werden die auf den Stab zwischen die Blätter verteilten Buchstaben Teil des Ornaments. Die Ausformung jedes einzelnen Buchstabens erreichte hier ihren Höhepunkt, der in dem Moment überschritten wurde, als man längere Texte an den Häusern anbrachte und naturgemäß der Ausführung der Einzelbuchstaben weniger Bedeutung zumaß. Die ältere und schlichtere Form dieser Inschriften sind die auf die einzelnen Felder eines Treppenfrieses verteilten Baudaten. Stellvertretend für andere Inschriften dieser Art können hier zwei Baudaten [Druckseite XXXVIII] an den Häusern Poststr. 10 (A3 Nr. 160) und Breite Straße 3 (A3 Nr. 161) aus dem Jahr 1467 genannt werden. Die Hastenbrechungen der gotischen Minuskel sind hier in beiden Fällen plastisch umgesetzt, indem die umgebrochenen oberen und unteren Hastenenden über bzw. unter die jeweilige Haste gelegt sind. Dies erfolgt jedoch auf unterschiedliche Art. Während die Hastenenden im einen Fall (A3 Nr. 160) in einer geschwungenen Linie weich umgelegt sind und die Hasten ansonsten flach gestaltet sind, weisen die Buchstaben im anderen Fall (A3 Nr. 161) deutliche Brechungen mit vor die Hasten gelegten Quadrangeln und hinter die Hasten gelegten oberen Bogenabschnitten auf; die Hasten selbst sind hier durch einen rechtsschräg verlaufenden Mittelgrad plastisch gestaltet. In derselben Weise sind die Buchstaben des Baudatums vom Haus Heydenstr. 2 (A3 Nr. 181) ausgeführt. Auch in Kombination mit dem Laubstabornament treten noch in dieser Weise plastisch gestaltete Schriften auf (A1 1531), die aufwendigen Blattornamente werden aber auch mit in ihrer Oberfläche glatten Buchstaben der gotischen Minuskel kombiniert (Nr. 421).

Eine Ausnahmestellung – schon durch die hier verwendete Schriftart der frühhumanistischen Kapitalis – nimmt die Inschrift vom Haus Wendenstr. 6 aus dem Jahr 1512 ein (A3 Nr. 349), deren Buchstabengruppen in oben rundbogig abgeschlossenen Feldern in einem Treppenfries stehen. Der Schmuckcharakter, den die Inschrift schon durch die Wahl der Schriftart erhält, wird noch durch weitere Elemente betont. Eine besondere Plastizität gewinnen die Buchstaben dadurch, daß ihre Hasten und Bögen jeweils einen den Verlauf der Schattenachse betonenden Grat aufweisen. Das A in A(N)NO hat einen durch die Schräghasten gesteckten, gebrochenen Balken, dessen Enden eingerollt sind; in gleicher Weise ist auch ein in das spitzovale O eingestelltes S-förmiges Zierelement gleichsam in die Bögen eingehängt. Die plastische Gestaltung geht bis in das kleinste Detail; den I sind im Wechsel kleine in der Mitte vertiefte Dreiecke mit ausgezogenen Spitzen und kleine in der Mitte vertiefte Kreise übergesetzt. Weitere Beispiele für frühhumanistische Kapitalis in Braunschweig finden sich auf drei Kelchen (A3 Nr. 277, 398A, 398B) und an dem Haus Neuestr. 5 (Nr. 458).

Die in dem jüngeren Braunschweiger Inschriftenbestand vorherrschende Schrift ist – wie bereits in Hannover – die Kapitalis. Daneben findet sich hier aber auch eine ganze Reihe von Inschriften, die in – zumeist gemalter – Fraktur ausgeführt sind. Vor allem in den Hausinschriften hält sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts noch eine Spätform der gotischen Minuskel mit Versalien, die in gotischer Majuskel, frühhumanistischer Kapitalis oder Fraktur ausgeführt sind. Was die Kombination von Schriften auf demselben Inschriftenträger anlangt, so wurde am Haus Echternstr. 14/15 (Nr. 483) für die lateinische Versinschrift die Kapitalis gewählt, während die deutsche Prosaversion des Textes in gotischer Minuskel ausgeführt ist. Generell läßt sich anmerken, daß es sich bei den Frakturinschriften in der Regel um deutsche Texte handelt; der Umkehrschluß gilt jedoch nicht, da auch viele deutsche Inschriften in Kapitalis ausgeführt sind. Besonders interessant ist die Verwendung ganz unterschiedlicher Schriftarten auf einem Epitaph mit gemalten Inschriften aus dem Jahr 1583 (Nr. 588). Die deutsche Prosagrabschrift ist in einer Fraktur mit teilweise sehr aufwendig gestalteten Frakturversalien ausgeführt, für die lateinischen Bestandteile dieses Textes wurde jedoch die Kapitalis verwendet. Ebenso fand die Kapitalis Verwendung für eine lateinische Versinschrift und für ein deutsches Bibelzitat, bei dem man allerdings eher eine Fraktur als die passende Schriftart erwartet hätte. Besonders eigenwillig ist die für die lateinische Versinschrift ausgewählte Mischschrift, die Merkmale der humanistischen Minuskel und der Fraktur in sich vereint, und mit Kapitalisversalien kombiniert ist. Die Hervorhebung einzelner zumeist lateinisch geprägter Wörter innerhalb von deutschen Frakturinschriften durch Verwendung von Kapitalis kommt vor allem in den jüngeren gemalten Inschriften des Braunschweiger Bestandes häufiger vor. Umgekehrt ist in der in Kapitalis ausgeführten lateinischen Grabschrift auf dem Epitaph des Wilhelm von der Ow (Nr. 741) der deutsche Name zweimal in Fraktur ausgeführt.

Etwa gleichzeitig mit der Fraktur gewinnt um die Mitte des 16. Jahrhunderts auch die Renaissancekapitalis für die Braunschweiger Inschriften an Bedeutung und entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit zur vorherrschenden Schrift. Die Braunschweiger Kapitalisinschriften orientieren sich in der Regel nicht an den klassischen Proportionen, sondern weisen eher hohe schlanke Buchstaben auf. Dies gilt mit Ausnahme des Epitaphs des Joachim Jordan (Nr. 880) auch für die in Messingtafeln gravierten Inschriften wie das Epitaph des Johann Doring (Nr. 562). Klassische Einflüsse läßt am ehesten die eingehauene Inschrift auf der Grabplatte des Heinrich Lampe von 1583 (Nr. 587) erkennen, die M mit geraden Hasten und bis auf die Grundlinie reichendem Mittelteil und ein breiteres Konstruktionsprinzip als andere Kapitalisinschriften dieser Zeit aufweist. Im 16. Jahrhundert und auch überwiegend noch in der Zeit bis 1671 wird der [Druckseite XXXIX] Buchstabe M mit geraden oder schrägen Hasten und bis zur Mittellinie reichendem Mittelteil ausgeführt. Erste Beispiele für M mit einem bis zur Grundlinie reichenden Mittelteil finden sich seit dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts (Nr. 842; Nr. 892; Nr. 1177). Ein Wechsel von U- und V-Schreibung für vokalisches u läßt sich am Original erstmals 1616 (Nr. 746) nachweisen, durchgängig wird U erstmals auf einem Epitaph von 1622 verwendet (Nr. 775). Generell überwiegt aber im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts noch die V-Schreibung. Erst um die Jahrhundertmitte setzt sich U-Schreibung durch, daneben gibt es aber auch immer noch V für vokalisches u (Nr. 936, 965, 1006). Die in Renaissance-Kapitalis ausgeführten Steininschriften des 16. Jahrhunderts sind zum größten Teil erhaben gehauen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts mehren sich die eingehauenen Inschriften; seit dem zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts sind die im Original erhaltenen Steininschriften in Kapitalis ausnahmslos eingehauen.

Abschließend soll hier noch auf die Schriftbesonderheiten der in Braunschweig lediglich mit zwei im Original erhaltenen Stücken vertretenen Werkstatt Ebert Wolfs d. J. hingewiesen werden. Auf der Grabplatte des Ludolph Schrader (Nr. 624) führte Wolf eine erhabene Kapitalis aus. Es handelt sich dabei um eine schlanke rechtsgeneigte Kapitalis mit ausgeprägten Sporen an den Hastenenden. Besonderes Kennzeichen dieser Schrift sind an den Bogenenden von S und C ansetzende Häkchen, die nach links zurückgebogen sind und über die vertiefte Zeile hinausgreifen. Die erhabene Fraktur auf dem Epitaph des Fritze von der Schulenburg (Nr. 629) ist typisch für die Wolfsche Werkstatt. Sie wurde in voller Ausprägung schon von Ebert Wolf d. Ä. verwendet und dann offensichtlich von seinem Sohn übernommen (vgl. dazu Nr. 629). Ein besonders auffälliges Merkmal dieser Schrift sind neben der aufwendigen Gestaltung von Frakturversalien die kleinen dreieckigen Ausbuchtungen links an der Schaftmitte von b, h und l. Von den Inschriften seines Vaters unterscheidet sich Ebert Wolf d. J. bei dieser Inschrift in der Gestaltung der Unterlänge des g, die hier immer eingerollt ist.

Zitationshinweis:

DI 56, Stadt Braunschweig II, Einleitung, 4. Schriftformen (Sabine Wehking), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di056g009e007.