Die Inschriften der Stadt Aachen

2. DIE ÜBERLIEFERUNG

Von den 210 im vorliegenden Band behandelten Inschriftenträgern sind 106 nicht im Original erhalten, sondern nur abschriftlich, in Nachzeichnungen oder fotografisch überliefert. Die Gründe für die hohe Verlustquote, die für städtische Inschriftenbestände allerdings durchaus nicht untypisch ist,4) liegen vor allem in einschneidenden äußeren Ereignissen. Zahlreiche Inschriften sind dem zerstörerischen Stadtbrand im Mai 1656 zum Opfer gefallen, der weite Teile des Stadtkerns in Schutt und Asche legte,5) oder [Druckseite XIII] gingen während der mehrmaligen Bombardierung Aachens im Zweiten Weltkrieg6) unter. Daneben war es ein Wandel des Zeitgeschmacks, der dem Abriß und Neubau eines Bürgerhauses oder der Neugestaltung eines Kircheninnenraumes häufig genug den Vorzug gegenüber der Erhaltung des Überkommenen gab. Eine der ältesten und für die Stadtgeschichte aufschlußreichsten Inschriften, nämlich die Fassadeninschrift am sog. Grashaus (Nr. 10), dokumentiert, daß das Interesse an historischen Denkmälern über die Jahrhunderte hinweg durchaus nicht gleichmäßig ausgeprägt war. Wurden Bau und Inschrift nach ihrer Zerstörung im Stadtbrand ohne Zögern wiederhergestellt, so bedurfte es im 19. Jahrhundert des Einsatzes einer Gruppe geschichtsbewußter Bürger, um das mittlerweile verwahrloste Gebäude und mit ihm die Reste seiner Inschrift vor dem Abriß zu bewahren.7)

Die Erkenntnis, daß selbst die Summe der original und kopial überlieferten Inschriften stets nur einen (und vielleicht den kleineren) Teil des ursprünglichen Gesamtbestandes ausmacht, wird durch Quellen bestätigt, die von der Beseitigung zahlreicher alter Grabplatten aus verschiedenen Kirchen im 18. und 19. Jahrhundert berichten – leider ohne die entfernten Monumente zu dokumentieren.8)

Systematische Inschriftensammlungen, wie sie anderwärts seit dem 17. Jahrhundert angelegt wurden,9) fehlen für Aachen. Auch die niederrheinischen Sammlungen historischer Nachrichten und Quellenabschriften, insbesondere die ‚Farragines' der Brüder Johann und Ägidius Gelenius10) und die Sammlung des jülisch-bergischen Archivars Johann Gottfried von Redinghoven11) aus dem 17. Jahrhundert, die Sammlung des Bartholomäus Joseph Blasius Alfter zur Geschichte von Stadt und Erzbistum Köln aus dem 18. Jahrhundert12) sowie die um 1800 angelegte Sammlung des Ludwig von Büllingen13), enthalten nur vereinzelt Inschriften Aachener Provenienz.

Reicher ist hingegen die Ausbeute an Aachener Inschriften in den genealogisch-heraldischen Sammlungen der Lütticher Le Fort und Abry. Der Historiker, Genealoge und Heraldiker Louis Abry (1643–1720) hinterließ eine Zusammenstellung von Wappenzeichnungen und Beischriften, die sich heute in der Bibliothek des Zisterzienserklosters Val-Dieu (Diözese Lüttich) befindet.14) In dieser Sammlung, die als Grundlage für genealogische Studien zum Lütticher Adel dienen sollte, verzeichnet Abry eine Reihe von Inschriften an Aachener Standorten, insbesondere in der Abteikirche St. Johann Baptist in Burtscheid, in der Ägidiuskapelle des Deutschen Ordens und in der Karmeliterkirche, die er bei einem Besuch in Aachen 1704 kopierte. Nicht in allen Fällen gibt er den Standort der Inschrift an, gelegentlich bleibt auch der Inschriftenträger unerwähnt.

Weniger zahlreich sind die auf Aachen bezogenen Notizen in der sehr umfangreichen Sammlung Jean-Gilles Le Forts († 1718), der Wappenherold des Landes Lüttich und seit 1688 auch kaiserlicher Wappenherold für den Niederrhein war.15) Das Ergebnis seiner langjährigen Tätigkeit in diesem Amt besteht in einer 52 Foliobände und mehrere tausend lose Dokumente umfassenden Zusammenstellung heraldischer und genealogischer Aufzeichnungen.16) Le Fort überliefert aus Aachen Nachzeichnungen mehrerer Grabplatten und Epitaphien sowie Wappen und Inschriften auf zwei Glasfenstern17) und einem Altar.18)

Quelle für die Überlieferung verlorener Inschriften sind neben diesen Sammlungen in erster Linie [Druckseite XIV] Aachener Chroniken und Stadtbeschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie verbinden eine unterschiedlich ausführliche, allerdings nicht immer zuverlässige Darstellung der Stadtgeschichte mit einer Beschreibung der wichtigsten Aachener Bauten. Die erste Quelle dieser Art ist das in lateinischer Sprache abgefaßte, 1620 gedruckte „Aquisgranum“ des Petrus à Beeck, eines Kanonikers des Marienstifts und Propstes von St. Adalbert.19) Der Schwerpunkt des Buches liegt zum einen auf der Aachener Karlstradition, zum anderen auf der Geschichte der einzelnen Kirchen, Klöster und Stifte. Petrus à Beecks Werk, das in der historischen Darstellung teilweise fehlerhaft ist, enthält wichtige bau- und kunsthistorische Informationen, bietet in einigen Fällen die früheste Überlieferung eines Inschriftentextes und liefert damit zugleich für die entsprechenden Inschriften, sofern sie nicht anhand des Textes oder des Trägers datierbar sind, den Terminus ante quem.

1632 veröffentlichte der Doktor beider Rechte Johannes Noppius als erste deutschsprachige Stadtgeschichte seine „Aacher Chronick“.20) Ursprünglich als Übersetzung von à Beecks „Aquisgranum“ geplant, dann aber durch die Ergebnisse eigener Forschungen ergänzt, führt sie in vielen Punkten über die lateinische Vorlage hinaus. Für die Inschriften ist besonders das erste Buch des dreiteiligen Werkes von Interesse, das über die Entstehung und Entwicklung der Stadt und ihrer Institutionen handelt und eine Beschreibung kirchlicher und profaner Bauten beinhaltet.21)

Der Aachener Jesuit Heinrich Thenen verfaßte 1669 handschriftlich eine umfangreiche historische Stadtbeschreibung, die ebenfalls „Aquisgranum“ betitelt ist.22) Gleichfalls aus jesuitischer Feder stammen zwei Werke, die sich – im Unterschied zu Thenens „Aquisgranum“ – inhaltlich auf die Geschichte des Jesuitenklosters und des angeschlossenen Gymnasiums konzentrieren. Ihr Autor, Lambert du Chasteau, überliefert in der 1729 niedergeschriebenen „Historia collegii Aquensis Societatis Iesu“23) und im „Archivum collegii Aquisgranensis Societatis Iesu“ von 1726 (mit Nachträgen bis 1745)24) vor allem die Bauinschriften an der Jesuitenkirche St. Michael und am Jesuitengymnasium.

1781 erschien der erste Band der „Aachenschen Geschichten“ Karl Franz Meyers des Älteren.25) Ähnlich wie Noppius hatte Meyer drei Teile geplant, die eine chronologische Darstellung der Stadtgeschichte (Band 1), eine Stadtbeschreibung und eine Sammlung von Urkunden umfassen sollten. Zu einer Veröffentlichung des zweiten und dritten Bandes kam es nicht mehr, doch hinterließ Meyer umfangreiches handschriftliches Material.26) Ist der Quellenwert für die historische Forschung auch nicht allzu hoch anzusetzen, so beinhaltet die Materialsammlung doch wichtige Zeugnisse für die Baugeschichte.

Alle diese Arbeiten überliefern eine Reihe von Inschriften. Doch richtet sich ihr Augenmerk vor allem auf Inschriften, die besonders bekannt oder an auffälliger Stelle angebracht waren. Dazu gehören in erster Linie Ausstattungsinschriften in der Marienkirche (dem heutigen Dom) sowie an öffentlichen Bauwerken. Grab- und Glockeninschriften etwa werden nur in Ausnahmefällen überliefert.

Hinzu kommen vereinzelte Abschriften inschriftlich ausgeführter Texte in Handschriften unterschiedlicher Provenienz, insbesondere in solchen Aufzeichnungen, die sich mit der Geschichte bestimmter Orden bzw. Ordensniederlassungen befassen.27) Von der umfangreichen historiographischen, bau- und kunstgeschichtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts sei nur das Werk des Lehrers und städtischen Bibliothekars Christian Quix erwähnt, der eine Vielzahl von Abhandlungen über die Geschichte einzelner Ortschaften und Kirchen Aachens und seiner Umgebung verfaßt hat.28)

Zitationshinweis:

DI 32, Stadt Aachen, Einleitung, 2. Die Überlieferung (Helga Giersiepen), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di032d002e004.

  1. Vgl. etwa DI 26 (Osnabrück), 28 (Hameln), 29 (Worms). »
  2. Vgl. RHOEN, Der große Brand, und unten S. XIXf. »
  3. Vgl. Das alte Aachen (Aachen 1953). Von den Folgen der kriegerischen Ereignisse des 16. und 17. Jahrhunderts hingegen blieb die Stadt weitgehend verschont (vgl. WOHLHAGE, Aachen im Dreißigjährigen Kriege, S. 14; J. HANSEN, Kriegsdrangsale Aachens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: ZAGV 7, 1885, S. 65–104 [70–73]). »
  4. Als erster stritt 1837 C. P. BOCK in mehreren Ausgaben des ‚Wochenblattes für Aachen und Umgegend' „Für die Erhaltung eines alten Baudenkmals“. Vgl. KDM 10,3, S. 185. »
  5. Vgl. KDM 10,2, S. 38 für das Alexianerkloster; ebd., S. 162 für St. Nikolaus; ebd., S. 197 für St. Peter. »
  6. Vgl. etwa die Heidelberger Sammlung des Adamus (DI XII [Heidelberg], S. XVII), die Nürnberger Sammlung Rötenbecks (DI XIII [Nürnberg], S. XIIIff.) und die Sammlungen Mainzer Inschriften von Heimbach, Helwich, Gudenus und Würdtwein (DI II [Mainz], S. 18ff.). Zu Helwich vgl. R. FUCHS, Georg Helwich – zur Arbeitsweise eines Inschriftensammlers des 17. Jh., in: Deutsche Inschriften. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik Worms 1986, Vorträge und Berichte, hrsg. von H. ZIMMERMANN, Stuttgart 1987, S. 73–99. »
  7. HAStK Best. 1039: Gelenii Farragines. Zu den Brüdern Gelenius vgl. NDB Bd. 6, S. 173f. »
  8. Bayerische Staatsbibliothek München, Cod. germ. 2213. Vgl. zu Redinghoven ADB Bd. 27, S. 534–536. »
  9. HAStK Bestand 1001. Zu Alfter vgl. NDB Bd. 1, S. 199. »
  10. HAStK Chroniken und Darstellungen 184. »
  11. Sie trägt den Titel „La noble antiquité Liégeoise. Tirée de diverses Archives, Sépultures, Verrières et autres monuments publicques. Exposée à son aimante Posterité par leurs propres seels et blasons tirés de diverses archives par Louis Abry.“ Fotografien der Aufzeichnungen befinden sich im Stadtarchiv Aachen (Hs. 945). Vgl. HUYSKENS, Verschwundene Grabsteine, S. 128. »
  12. Biographie Nationale de Belgique Bd. 11, Sp. 679f. »
  13. Die Sammlung wird heute in den Archives de l'État in Lüttich aufbewahrt. »
  14. Vgl. Nr. 104; DI 31 (Aachen Dom) Nr. 109a»
  15. Vgl. Nr. 100»
  16. Vgl. A. HUYSKENS, Peter von Beeck, der Verfasser der ersten gedruckten Aachener Geschichte, in: DERS., Heimatgeschichte, S. 300; MEUTHEN, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 385ff.; NDB Bd. 1, S. 731. »
  17. Vgl. A. HUYSKENS, Der Geschichtschreiber Noppius, in: DERS., Heimatgeschichte, S. 323; MEUTHEN, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 387f.; ADB Bd. 24, S. 4f. »
  18. Im zweiten Teil folgt eine städtische Chronik von 814 bis 1629, im dritten ein Quellenanhang. »
  19. Neben der vollständigen Fassung des Werkes (Hs. 16) besitzt das Stadtarchiv Aachen einen weitaus kürzeren, rein chronologisch geordneten Entwurf (Hs. 335). Vgl. MEUTHEN, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 388ff.; A. FRITZ, Der Aachener Geschichtsschreiber Heinrich Thenen, in: ZAGV 33, 1911, S. 267–276. »
  20. HAStK, Jesuiten-Abt. 661. »
  21. StA Aachen, KK Jesuiten 10. »
  22. Vgl. W. MUMMENHOFF, Der Geschichtschreiber Karl Franz Meyer der Ältere, in: HUYSKENS, Heimatgeschichte, S. 316f.; MEUTHEN, Aachen in der Geschichtsschreibung, S. 391f.; ADB Bd. 21, S. 605–608. »
  23. StA Aachen, Hss. 258 bis 273. »
  24. Das trifft etwa auf die „Descriptio brevis ortus et progressus almae provinciae Coloniensis Fratrum Minorum Francisci Recollectorum“ des Honoratus HERPERS (Mönchengladbach, Franziskanerarchiv) und auf das von Jakob MILENDUNCK niedergeschriebenen „Chronicon fratrum ordinis B. M. V. de Monte Carmeli in Germania existentium“ (StA Frankfurt, Karmeliterbücher 46) zu. »
  25. Über Quix vgl. C. WACKER, Christian Quix. Sein Leben und seine Werke, in: AAV IV, 1891, S. 41–80, 89–125; J. PLUM, Der Geschichtsforscher Christian Quix, in: HUYSKENS, Heimatgeschichte, S. 325f.; ADB Bd. 27, S. 62–64. »