Die Inschriften des Aachener Doms

5. SCHRIFTFORMEN

5.1. Alte Kapitalis

Der Aachener Dom birgt bzw. barg eine verhältnismäßig große Anzahl früher Inschriften. Obgleich gerade für die karolingische Zeit viele Verluste zu beklagen sind, sind doch einige Beispiele für die inschriftliche Verwendung der alten, am antik-römischen Vorbild orientierten Kapitalis erhalten.259) Bemerkenswert ist allerdings, daß keine der erhaltenen Aachener Kapitalis-Inschriften zu den in Stein gehauenen Monumentalinschriften zählt, sondern daß es sich vielmehr um Arbeiten in Metall oder Bergkristall oder um gemalte Inschriften handelt. Die früheste erhaltene Inschrift in Kapitalis, eine Beischrift zu Wandmalereien im Oktogon (Nr. 7), geht auf die Bauzeit des Domes zurück. Die Kopie der heute verdeckten Malerei zeigt Schriftfragmente, die in sehr nachlässiger oder ungelenker Weise ausgeführt sind. Auch die Inschriften der Stephansburse (Nr. 10), die noch dem 9. Jh. angehören, sind, wenngleich viel sorgfältiger ausgeführt, weit von dem Ideal der regelmäßigen, wohlproportionierten karolingischen Kapitalis entfernt.260) Der untere Scheitel des M reicht nicht bis zur Zeile, und das A wird ohne Querbalken verwendet. Es findet sich so ebenfalls am Reliquiensarg der Corona vom Beginn des 11. Jh. (Nr. 16, Abb. 8a–b), dessen Inschrift insgesamt, wie auch die des Leopardussarges, durch die Verwendung konservativer Buchstabenformen auffällt. Sie sind ausschließlich in kapitalen Formen ausgeführt. Die Rundungen der breiten Buchstaben sind stark ausgeprägt, Enklaven und Ligaturen werden weitgehend vermieden.

Domkapitel Aachen | DI 31, Nr. 13 - Dom - 10. Jh.?  | Nr. 13, Abb. 1

[Druckseite XXXV] Diesen eher schlichten, ja teilweise unsorgfältigen Inschriften stehen Beispiele einer sehr qualitätvollen Kapitalis gegenüber. Dazu gehört die Umschrift auf dem Siegelstempel am Lotharkreuz (Nr. 11, Abb. 6b) mit ihren breiten, durch kleine Sporen abgeschlossenen Buchstaben. Vor allem aber zählen die Inschriften des Pinienzapfens dazu (Nr. 13, Abb. 7a–b), die (mit Ausnahme eines unzialen E) in Form und Proportion durchaus den Anforderungen der karolingisch-ottonischen Capitalis quadrata entsprechen.

Auch das beginnende 11. Jh. kennt noch reine Kapitalis-Inschriften wie etwa die des von Heinrich II. gestifteten Ambos (Nr. 19, Abb. 10a–e), die sich durch ein großes Gleichmaß und eine besonders sorgfältige Ausführung auszeichnen. Die Buchstaben beginnen jedoch nun sich zu strecken, die Querstriche des E, L und F werden kürzer. Der Querbalken des A ist nach links über die Haste hinweg fortgesetzt, das G ist rund. Die Stiftungsinschrift und die Evangelistenumschriften sind in unterschiedlichen Techniken ausgeführt, dürften aber der Übereinstimmung in den Buchstabenformen nach aus derselben Werkstatt stammen. Die ebenfalls zu Beginn bzw. im ersten Drittel des 11. Jh. entstandenen Inschriften des goldenen Buchdeckels (Nr. 20, Abb. 11), der Altartafel (Nr. 21, Abb. 12a–c) und des Weihwassereimers (Nr. 22, Abb. 13) sind wegen ihrer Kürze von geringerem Interesse für die Inschriftenpaläographie.

5.2. Romanische und gotische Majuskel

Der Übergang von der Kapitalis zur romanischen Majuskel vollzog sich allgemein im Laufe des 11. Jh.,261) läßt sich in Aachen allerdings erst im dritten Viertel des 12. Jh. nachweisen. Die Inschriften der Iustitia-Platte (Nr. 23, Abb. 14), des sogenannten Brustkreuzes Karls des Großen (Nr. 24, Abb. 15), des Armreliquiars Karls des Großen (Nr. 25, Abb. 16) und der Emailplatte mit dem thronenden Christus (Nr. 27, Abb. 18) sind noch vollständig vom kapitalen Formenbestand geprägt, zeigen aber schon eine Verbreiterung der Schäfte zu den Hastenenden hin. Zahlreiche unziale und pseudounziale Formen finden hingegen in den Inschriften des Barbarossaleuchters Verwendung (Nr. 28, Abb. 19a–e), der auch in den Zierelementen einen außerordentlichen Variantenreichtum zeigt. Eine Sonderstellung nimmt die Inschrift des Spesschreins ein (Nr. 26), deren eigenwillige Majuskel mit einigen für Mitteleuropa ungewöhnlichen Formen einen Hinweis auf ihre süditalienische Herkunft gibt (Abb. 17).

In Stein gearbeitet ist die romanische Majuskel nur zweimal für Aachen belegt (Nr. 29, 31). Beide Inschriften sind verloren und lediglich in Nachzeichnungen überliefert.

Seit dem Ende des 12. Jh., besonders aber im 13. Jh. verändert sich die Form der Buchstaben. Die Bögen erhalten nun Verdickungen, die Hasten breite Sporen, die sich bis zum Abschlußstrich verlängern. Die daraus entwickelte gotische Majuskel bleibt bis zur Mitte des 14. Jh. die vorherrschende epigraphische Schriftform.262) Die terminologische Unterscheidung zwischen romanischer und gotischer Majuskel ist unproblematisch, sofern es sich um voll ausgebildete Formen beider Schriften handelt. Die Differenzierung zwischen der späten romanischen und der frühen gotischen Majuskel hingegen ist kaum ohne ein gewisses Maß an Willkür möglich, da sich die Schriftveränderungen nicht sprunghaft, sondern allmählich vollziehen.

Domkapitel Aachen | DI 31, Nr. 34 - Dom, Chor - nach 1182-1215 | Nr. 34, Abb. 31

An der Schwelle zwischen beiden Schriftarten stehen die Inschriften des Karlsschreins (Nr. 34). Die Inschriften der Langseiten (Abb. 21d–l) sind noch eindeutig in romanischer Majuskel ausgeführt. Mit Ausnahme des unzialen E schöpfen sie ausschließlich aus dem kapitalen Formenrepertoire. Es läßt sich zwar schon eine ausgeprägte Sporenbildung feststellen, doch führt das nur in einigen Fällen beim E bereits zur Abschließung. Die Urkundeninschrift (BB) läßt in der Verwendung bestimmter Kürzungszeichen die Orientierung an einer urkundlichen Vorlage erkennen. Im Unterschied zu den Langseiten sind die Inschriften der beiden Giebelseiten und der Dachreliefs bereits in gotischer Majuskel gegeben (Abb. 21a–c, 21m–t). A, H, K, M, N, Q, T und V kommen als neue Unzialbuchstaben hinzu. Die Querstriche von F und T sind teilweise geschwungen. Die Buchstaben sind durch Schwellungen an den Bögen und durch schnörkelartig auslaufende Hasten verziert.

Eine ähnliche Beobachtung wie beim Karlsschrein läßt sich auch bei dem zweiten großen Goldschmiedewerk des 13. Jh., dem Marienschrein, anstellen (Nr. 35). Während die Inschriften der Leo- und der Karlsseite (Abb. 22c–f, 22h) fast nur kapitale Formen aufweisen, wechseln an der Marien- und der Christusseite (Abb. 22b, g) kapitale und unziale Formen ab. Die Marienschrein-Inschriften er-[Druckseite XXXVI]-scheinen insgesamt steifer im Duktus und weniger vielfältig in ihren Formen als die Inschriften des Karlsschreines.

Die übrigen Inschriften in gotischer Majuskel – durchweg kurze Tituli – gehören bereits dem 14. Jh. an (Nr. 38, Abb. 25; 39; 40; 53).

5.3. Gotische Minuskel

Im 14. Jh. werden für die Ausführung von Inschriften erstmals Minuskeln verwendet, die aus der buchschriftlichen Textura übernommen wurden. Anhand des Inschriftenbestandes der Aachener Marienkirche läßt sich der Übergang von der gotischen Majuskel zur gotischen Minuskel insofern schlecht verfolgen, als aus der Zeit zwischen der Fertigstellung des Marienschreins (1238) und der Mitte des 14. Jh. lediglich eine einzige (heute verlorene) Inschrift überliefert ist (Nr. 37).263) Zwischen 1350 und 1400 hingegen entstanden 17 Inschriftenträger, von denen zwölf Inschriften in gotischer Minuskel aufweisen.264) Die neue Schriftform setzte sich also seit der Mitte des 14. Jh. sehr rasch und zudem weitgehend unabhängig von Material und Technik durch. Annähernd gleichzeitig wurde sie in gemalten, gestickten, emaillierten und gravierten Inschriften wie auch in Steininschriften rezipiert. Ist angesichts der Überlieferungslage auch nicht auszuschließen, daß die gotische Minuskel in Aachen schon in der ersten Jahrhunderthälfte für Inschriften des Aachener Domes Verwendung fand,265) so entspricht der zeitliche Ansatz der überlieferten Minuskelinschriften doch dem in anderen Gebieten.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 31, Nr. 48 - Dom, Schatzkammer - 3. Viertel 14. Jh.  | Nr. 48, Abb. 2

Die enge Verbindung der Inschriftenminuskel mit der Buchschrift kommt besonders bei den gemalten Inschriften zum Tragen, da der Pinsel eine ähnlich differenzierte Strichführung ermöglicht wie die Schreibfeder. Diese Beziehung wird durch die Verwendung farbig abgehobener Initialen augenfällig, die zuweilen auch in Emailinschriften feststellbar ist (Nr. 48, Abb. 28). Der überwiegende Teil der mit Inschriften versehenen Emailarbeiten des Domschatzes ist bis zum Ende des 14. Jh. entstanden. Die Objekte, deren Inschriften in gotischer Minuskel ausgeführt sind, zeigen also einen frühen Entwicklungsstand dieser Schrift. Dementsprechend sind die Buchstaben noch in ein Zweilinienschema eingebunden und verzichten auf Zierstriche und andere ornamentale Ausgestaltungen. Eine Sonderstellung unter den Emailinschriften nimmt die Margarethenkrone ein (Nr. 66, Abb. 35), deren Buchstaben einzeln aus Metall gefertigt und dann mit Email überzogen wurden. Die Hasten von r und t haben in Schnörkeln auslaufende Begleitstriche, i und der Querstrich des t gebogene Anschwünge. Die technische Ausführung der Schrift verbietet natürlich eine allzu feine Strichführung, um die Stabilität der Buchstaben nicht zu gefährden.

Die frühesten gravierten Minuskelinschriften sind der Kreuztitulus am Fuß des Lotharkreuzes (Nr. 47) und die Rahmeninschrift der Lukasmadonna (Nr. 49, Abb. 24).

Ebenfalls im dritten Viertel des 14. Jh. setzen die in Stein gehauenen Minuskelinschriften ein (Nr. 36, 44, 45). Auch sie sind noch in ein Zweilinienschema eingebunden, haben also kaum Oberlängen; die Buchstaben mit Unterlängen stehen auf der Zeile. Die Grabplatte des Helpricus (Nr. 36, Abb. 23) hebt sich nicht nur in der Verwendung von Marmor anstelle des üblichen Blausteins vom übrigen Bestand an Grabplatten ab, sondern auch durch die Gestaltung der Umschrift, die nicht – wie bei den anderen Platten – von zwei Linien begrenzt wird. Die Hasten des m und n stehen unverbunden nebeneinander, ohne durch einen schräg abgeknickten Strich oder Quadrangeln aufeinander bezogen zu sein. Lediglich die Bögen von c, e, o und s sind durch kurze Striche angedeutet.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, blieb die gotische Minuskel bis zum 16. Jh. die Schrift der Grabplatten. Aufgrund der homogenen Gestaltung ist an ihnen, soweit der schlechte Erhaltungszustand zahlreicher Grabplatten eine solche Feststellung überhaupt zuläßt, kaum eine Weiterentwicklung der gotischen Minuskel erkennbar. Auf Versalien und Verzierungen wird im 14. wie im 15. und 16. Jh. weitgehend verzichtet. Lediglich die Grabplatte des Hermann von Wesel (Nr. 74, Abb. 36) nimmt aufgrund der Verwendung großzügig geschwungener Versalien und zahlreicher Zierstriche eine Sonderstellung ein. Die Unterlängen bleiben schwach ausgeprägt, und die Entwicklung eines gitterartigen Erscheinungsbildes der Schrift ist nicht erkennbar.

Im Unterschied zu den Inschriften der Grabplatten entsprechen die Inschriften auf den Tür- und Fensterstürzen der ehemaligen Dechaneigebäude (Nr. 93, 98, 101–104, Abb. 49), die alle in der Amtszeit des Dechanten Johannes Schönrad (1520–1541) entstanden sind, dem allgemeinen Entwicklungs-[Druckseite XXXVII]-stand der gotischen Minuskel im 16. Jh. Die Schrift weist ausgeprägte Ober- und Unterlängen und zahlreiche Fraktur-Versalien auf. Typisch für diese Inschriftengruppe ist das Majuskel-A mit stark geschwungener linker Haste und einem weit nach links gezogenen, geschwungenen Deckstrich.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 31, Nr. 72 - Dom, Nikolauskapelle - 1487  | Nr. 72, Abb. 1

Die gotische Minuskel ist auch für die Inschriften mehrerer metallener Epitaphien verwandt worden, die zwischen 1487 und 1560 angefertigt wurden (Nr. 72, 94, 107, 109). Die Schrift des Epitaphs des 1487 verstorbenen Arnold von Merode (Nr. 72, Abb. 43) zeichnet sich durch großes Gleichmaß und eine sorgfältige ornamentale Gestaltung aus. Die Buchstaben sind eng aneinandergeschoben und häufig ligiert. Das s hat einen feinen Diagonalstrich, e, f, r und t laufen in fadenförmigen Caudae aus. Die Unterlänge des g ist in feinen Strichen schwungvoll nach links geführt. Rundes und Schulter-r wechseln sich ab. Besonders kunstvoll sind die Versalien ausgestaltet, die zweifellos auf buchschriftliche Vorlagen zurückgehen. Sie prägen durch ihre ungewöhnliche Linienführung, feinfädige Schleifen und andere Zierelemente wesentlich den Charakter der sehr qualitätvollen Schrift. Zudem belegen sie eine große Formenvielfalt: Das Majuskel-A wird insgesamt siebenmal verwandt, jedes Mal in einer anderen Variante. Das Epitaph des Arnold von Merode stellt in Darstellung und Textgestaltung sicherlich ein Meisterwerk des metallverarbeitenden Handwerks dar.

Demgegenüber ist der Charakter der Schrift auf den Epitaphien der Vettern Munten († 1546 und 1559, Nr. 107, Abb. 47) und des Johannes Pael († 1560, Nr. 109, Abb. 44) schlichter. Beide stimmen in der Form und der Ornamentierung der Buchstaben überein und stammen sicher von derselben Hand. Die Schrift ist breiter als bei dem Merode-Epitaph und verzichtet weitgehend auf Kürzungen. Die Buchstaben tragen kaum Verzierungen. Am Wortbeginn sind die Bögen und Rundungen von d, o, q und s fast durchgehend sehr rund ausgeführt, wobei die typischen Brechungen der gotischen Minuskel vollständig verlorengehen. Die Ober- und Unterlängen der Gemeinen sind ausgeprägt, während die Versalien sich weitgehend einem Zweilinienschema einpassen. Sie sind der Fraktur entnommen, jedoch schlicht und schnörkellos ausgeführt. Ihre Hasten werden von zwei oder drei vertikal angeordneten Vierkantpunkten begleitet.

Einen völlig anderen Charakter haben die Inschriften des Epitaphs des Johannes Pollart († 1534, Nr. 94, Abb. 45). Es setzt sich aus zwei Texten zusammen, die sich auf zwei untereinander angeordneten Platten befinden und von zwei verschiedenen Händen stammen dürften. Zwar ist die Schrift beider Teile eine klassische gotische Minuskel, die klare, schnörkellose Formen bevorzugt. Dennoch unterscheiden sich beide Schriften deutlich in ihrem Gesamtcharakter. Im oberen Teil ist der Abstand zwischen den Zeilen ausreichend, um ausgeprägte Unter- bzw. Oberlängen zu ermöglichen. Auf der unteren Platte werden die Ober- und Unterlängen hingegen aus Platzgründen kürzer gehalten. Die Buchstaben der zweiten Inschrift zeigen jedoch deutlichere Brechungen, sie wirken gestreckter und enger aneinandergeschoben. Dadurch wird der gitterartige Charakter der gotischen Minuskel betont. Das runde s ist im unteren Teil regelmäßig von einem fadenförmigen Schrägstrich durchzogen, die Hasten von b, h und l sind gespalten. Die Rundungen des versalen D, Q und V tragen zwei schräge Zierstriche.

Das Epitaph des Johannes Pollart steht als Beispiel dafür, wie der Schriftbefund und die Art der Anbringung einer Inschrift (in diesem Fall auf zwei verschiedenen Platten) die Untersuchung von Inhalt und Sprachstil ergänzen: Alle Faktoren weisen auf zwei verschiedene Verfasser, zwei ausführende Hände und eine unterschiedliche Entstehungszeit der beiden Inschriften hin.

5.4. Frühhumanistische Kapitalis

Im Zuge der humanistischen Bemühungen um ein Anknüpfen an antike Traditionen begann im 15. Jh. sowohl in der gedruckten Auszeichnungsschrift als auch in der epigraphischen Schrift die Rezeption der antiken Kapitalis. Der Wiederbelebung der Kapitalis in ihrer reinen Form ging jedoch vielerorts die Entwickung einer Übergangsschrift voraus, die sich durch zahlreiche Sonderformen von der antiken und der karolingischen Kapitalis unterscheidet.266)

In Aachen wurde diese frühe Form der Kapitalis kaum und erst spät rezipiert. Selbst diejenigen unter den Kanonikern der Marienkirche, die bekanntermaßen zum Kreis der Aachener Humanisten gehörten, wählten für ihre inschriftlichen Denkmäler die konservative gotische Minuskel: Der Dechant Johannes Schönrad (1520–1541) etwa ließ an mehreren Tür- und Fensterstürzen der von ihm ausgebauten Dechanei Inschriften in gotischer Minuskel anbringen (Nr. 93, 95, 98, 101–104, Abb. 49). Auch die Epitaphien des 16. Jh. nehmen die neue Schriftform nicht auf.

[Druckseite XXXVIII] Selbst die wenigen überlieferten Beispiele weisen immer nur einige der typischen Elemente der frühhumanistischen Kapitalis auf, unterscheiden sich aber insgesamt deutlich von der reinen Renaissance-Kapitalis. Die frühhumanistische Kapitalis wurde bevorzugt für Tituli und Künstlerinschriften gewählt, also Inschriften, die den Auszeichnungsschriften des Buchwesens entsprechen.267) Von den fünf Inschriften dieses Schrifttyps im Bestand des Aachener Domes fallen vier unter diese Kategorie. Die Künstlerinschrift des Jan Bieldesnider (1524, Nr. 90, Abb. 51) hat die typische gestreckte Form der frühhumanistischen Kapitalis. Unziales D und E wechselt mit kapitalem, das A hat einen gebrochenen Quer- und einen breiten Deckbalken. Die Schrift greift Elemente der gotischen Majuskel auf, die jedoch durch die betont schmale Buchstabenform verfremdet erscheinen.

Die drei anderen „Auszeichnungsinschriften“ befinden sich an Goldschmiedewerken. Zwei der Arbeiten stammen sicher, die dritte vermutlich aus der Werkstatt des Hans von Reutlingen.268) Die früheste von ihnen, der Buchdeckel des Reichsevangeliars (um 1500, Nr. 86) zeigt u. a. die Evangelisten, von denen zwei durch beschriftete Spruchbänder namentlich gekennzeichnet sind. Weniger genau datierbar und zudem nicht als Werk des Hans von Reutlingen gesichert ist das Inschriftenmedaillon auf dem Felixschrein (1. Drittel 16. Jhd., Nr. 96, Abb. 42). Die Zuweisung an Reutlingen basiert auf der stilistischen Beurteilung Ornamentik, die die Inschrift umgibt269), und wird durch die Schriftform gestützt, die mit der der Beischriften auf dem Buchdeckel genau übereinstimmt: Das A hat einen breiten Deckstrich und einen gebrochenen Querbalken; N wird in retrograder Stellung verwendet, das O ist mandelförmig; der Querstrich des H und die Kürzungsstriche zeigen Ausbuchtungen; die Unterlänge des Minuskel-Q steht auf der Zeile. Alle anderen Buchstaben entsprechen bereits der an antikem Vorbild orientierten Kapitalis. Für eine Kelchinschrift hat der Künstler auf ein etwas anderes Formenrepertoire zurückgegriffen (1528, Nr. 92, Abb. 41). Zwar zeigen A, H, N und O die gleiche Form wie am Felixschrein und am Buchdeckel, doch ist das E stets unzial, das kapitale D oben zwischen Bogen und Haste nicht geschlossen. Das Majuskel-Q ähnelt einer Neun mit sehr großem Bauch.

AWK NRW, Arbeitsstelle Inschriften | DI 31, Nr. 97 - Dom, Nikolauskapelle - 1534 | Nr. 97, Abb. 3

Unter den Grabschriften ist nur die Inschrift auf der Grabplatte des Stiftskanonikers Johannes Pollart († 1534, Nr. 97, Abb. 46) in frühhumanistischer Kapitalis ausgeführt. Ihre Buchstaben sind hoch und schmal, die Kürzungsstriche ausgebuchtet. Neben den bereits erwähnten typischen Formen des A, H, N und O werden das Minuskel-B und mandelförmiges Q in Form einer seitenverkehrten Neun verwendet. Unziales und kapitales D wechseln ab, die Bögen von D, P und Q sind nicht geschlossen.

Ein spätes Beispiel für die Verwendung von Formen der frühhumanistischen Kapitalis bietet die steinerne Einrahmung eines Fensters, die im Jahre 1584 in allerdings recht unfachmännischer Weise mit Darstellungen und Inschriften versehen wurde (Nr. 114, Abb. 52a). Wir finden dort das A mit gebrochenem Querbalken (allerdings ohne Deckstrich), das retrograde N und das H mit ausgebuchtetem Querstrich wieder. Die Buchstaben sind jedoch deutlich breiter, das O sogar kreisrund. Die variierende Buchstabengröße sorgt für ein unruhiges, ungleichmäßiges Schriftbild, das dem betont ornamentalen Charakter der frühhumanistischen Kapitalis zuwiderläuft.

Die frühhumanistische Kapitalis ist in Aachen nie zur vollen Ausprägung gelangt. Die wenigen Beispiele für ihre Verwendung270) weisen alle nur einige typische Formen auf, während andere, etwa das byzantinische M und das epsilonförmige E, überhaupt nicht oder nur vereinzelt übernommen wurden.271)

5.5. Renaissance-Kapitalis

Im Unterschied zur frühhumanistischen Kapitalis fand die Renaissance-Kapitalis, die die reinen Formen des antiken Alphabets wiederaufnahm, seit etwa 1500 rasche und weite Verbreitung in den Aachener Inschriften und avancierte seit Mitte des 16. Jh. zur beherrschenden epigraphischen Schriftart. Die Kapitalis-Inschriften setzen gegen Ende des 15. Jh. ein,272) beschränken sich aber zunächst auf Kreuzti-[Druckseite XXXIX]-tuli (Nr. 70, 73, 76–78). Seit dem 16. Jh. werden zunehmend auch längere Texte in Kapitalis ausgeführt, wobei das Vorherrschen der lateinischen Sprache in den Inschriften der Marienkirche der bereitwilligen Aufnahme dieser Schriftform förderlich gewesen sein dürfte.273) Typisch scheint in dieser Hinsicht die (leider nur in einer Nachzeichnung überlieferte) Grabplatte des Johannes und des Lambert von Munten (1559, Nr. 106, Abb. 48) zu sein, die einen lateinischen Text in Kapitalis und einen deutschen Spruch in gotischer Minuskel trug.

Den Charakter der Kapitalis als Auszeichnungsschrift lassen seit dem 17. Jh. Inschriften erkennen, die durch das große Gleichmaß der Schriftform dekorativ gestaltet und durch Variationen der Buchstabenhöhe optisch strukturiert werden. Letzteres gilt besonders für das Epitaph der Kanoniker Goswin und Franz Albert Schrick (1635 / 1653, Nr. 132, Abb. 55) und die Dankinschrift für die Infantin Isabella Clara Eugenia (1629, Nr. 131, Abb. 56). Unmittelbar an die Verwendung von Majuskelschriften wie der Kapitalis gebunden ist die Einbeziehung von Chronogrammen in den Inschriftentext (vgl. Nr. 115, Abb. 54; 132, Abb. 55). In einer Minuskelschrift wäre die Hervorhebung der römischen Zifferbuchstaben durch Überhöhung als dekoratives Mittel ungeeignet.

5.6. Sonderformen

Neben den oben dargestellten sind verschiedene weitere Schriftformen vereinzelt für Inschriften des Domes verwendet worden. Ein Teil von ihnen entspricht typischen epigraphischen Schriften, die sich in Aachen nicht haben durchsetzen können, andere fallen aufgrund ihrer geographischen Herkunft aus dem Rahmen der epigraphischen Schriftentwicklung Mitteleuropas. Eine dritte Gruppe muß wegen ihrer technischen Ausführung nach den Kriterien der Handschriftenpaläographie beurteilt werden.

Zu den letztgenannten zählen die Inschriften, die mit Feder und Tinte auf Stoff (Nr.2, 3, 12), Holz (Nr. 4, 32), Leder (Nr. 5, 6, 30) oder Knochen (Nr. 33) geschrieben sind. Die ältesten von ihnen entstammen dem 7./8. Jh. und sind in Unziale ausgeführt (Nr. 2–5, Abb. 2–4), die noch bis in ottonische Zeit als Auszeichnungsschrift für Handschriften in Gebrauch war.274) Eine Stoffaufschrift des 9. Jh. (Nr. 12, Abb. 5) ist in einer karolingischen Minuskel geschrieben, die in vergleichbarer Form ebenfalls in zeitgenössischen Handschriften begegnet. Gleiches gilt für die gotische Minuskel der Inschriften auf einem Holzreliquiar und auf einer Knochenreliquie vom Anfang des 13. Jh. (Nr. 32, Abb. 20; Nr. 33). Für die Entwicklung der epigraphischen Schrift sind diese Inschriften nur von geringem Interesse, da sie – anders als die Gemäldeinschriften, denen sie technisch nahestehen – epigraphische Schriftformen weder rezipieren noch beeinflussen.

Das ist bei denjenigen Inschriften anders, deren Schriftform zwar in Aachen singulär ist, jedoch Zeugnis gibt von der epigraphischen Entwicklung in anderen Teilen Europas. Die Inschrift auf der Scheide des sog. Jagdmessers Karls des Großen (Nr. 17, Abb. 9) zeigt typische Formen angelsächsischer Inschriften des hohen Mittelalters, so das z-förmige S und das Y. Ähnliches gilt, wie erwähnt275), für die romanische Majuskel des Spes-Schreines (Nr. 26, Abb. 17), deren Formen des F, O, R und T und deren Buchstabenproportionen eine Entstehung im süditalienischen Raum vermuten lassen.

Im Unterschied dazu zählen etwa die Kursive (Nr. 105) und die humanistische Minuskel (Nr. 136) andernorts im deutschen Kulturbereich durchaus zu den verbreiteten epigraphischen Schriften, sind aber in Aachen kaum aufgenommen worden und im erhaltenen Bestand jeweils nur einmal nachweisbar.

Zitationshinweis:

DI 31, Aachen (Dom), Einleitung, 5. Schriftform (Helga Giersiepen), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di031d001e009.

  1. Zeitlich vor der Kapitalis liegt die frühchristliche Schrift des Helaciussteins (Nr. 1, Abb. 1). »
  2. Vgl. dazu BAUER, Mainzer Epigraphik, S. 20. »
  3. Vgl. ebd. S. 27; BERGES, S. 15. »
  4. Vgl. KLOOS, Einführung, S. 129–132. »
  5. Die Grabplatte des 1261 verstorbenen Helpricus (Nr. 36) wurde erst im 3. Viertel des 14. Jh. angefertigt. »
  6. Dazu gehört das Scheibenreliquiar (Nr. 38), das neben der Minuskelinschrift mehrere Tituli in gotischer Majuskel trägt. Über die Schriftform zweier verlorener Inschriften (Nr. 41, 42) sind keine Aussagen möglich. »
  7. Zu frühen Minuskelinschriften vgl. NEUMÜLLERS-KLAUSER, Schrift und Sprache, S. 63–73. »
  8. Zur Genese und zur Terminologie vgl. R. NEUMÜLLERS-KLAUSER, Epigraphische Schriften zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Epigraphik 1988, S. 315–328; M. STEINMANN, Überlegungen zu „epigraphischen Schriften zwischen Mittelalter und Neuzeit“, ebd. S. 329f.; R. FUCHS, „Übergangsschriften“, ebd., S. 331–336. »
  9. Vgl. NEUMÜLLERS-KLAUSER (wie Anm. 266), S. 318. »
  10. Vgl. oben S. XXXII»
  11. Vgl. GRIMME, Domschatz, Nr. 32. In seiner Aufstellung der Werke des Hans von Reutlingen erwähnt GRIMME die Bearbeitung des Felixschreins nicht (E. G. GRIMME, Der Aachener Goldschmied Hans von Reutlingen (um 1465 bis um 1547). Versuch einer Dokumentation seines Werkes, in: AKB 49, 1980, S. 20f.). »
  12. Auch außerhalb des Domes sind nur drei Inschriften in dieser Schriftform ausgeführt, von denen zwei lediglich kurze Namensinschriften sind (vgl. DI Aachen/Stadt, Nr. 51, 55, 60). »
  13. Die Ausnahme bildet eine aus Italien importierte Inschrift von etwa 1432 (Nr. 60, Abb. 32a–b). »
  14. R. FUCHS (DI XXIX [Worms], S. LXVIII) warnt zu Recht vor einer generalisierenden Zuordnung ‚deutsche Inschrift – gotische Minuskel, lateinische Inschrift – Kapitalis‘. Es liegt aber nahe, daß humanistisch beeinflußte (und dann in der Regel lateinisch abgefaßte) Inschriften bewußt in der Schriftform ausgeführt sind, deren Wiederbelebung ebenfalls den Humanisten zu verdanken ist, eben in Renaissance-Kapitalis. Vgl. KAJANTO, Classical and Christian, S. 11–15. »
  15. Vgl. B. BISCHOFF, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24), Berlin 21986, S. 98. »
  16. Vgl. oben S. XXXV»